Von der Plattformökonomie zur dezentralen Ownership

„Plattformen“ – jeder redet davon. Und jeder meint etwas anderes. Gemeinsam mit dem Begriff Ecosystem sind es die Trendbegriffe unserer Zeit. Mit dem Wiedererstarken des Bitcoin-Kurses im Mai 2019 kommt ein weiteres Buzzword hinzu: Blockchain. Oder korrekt formuliert: Distributed Ledger Technologien: eine neue Art des Internets. Wie passt das nun alles zusammen und was bedeuten diese Phänomene für die Entscheider von heute?

Im Kern erfüllt eine Plattform zwei Funktionen: Sie koordiniert Angebot und Nachfrage und verkauft den Zugang. Das Koordinieren von Angebot und Nachfrage macht dann Sinn, wenn die Anbieterstruktur sehr zersplittert ist. Es wäre ausgesprochen ineffizient, wenn wir uns mit Freunden und Fremden immer wieder individuell darüber einigen müssten wer, wo, wie lange, in wessen Wohnung übernachten darf. Airbnb nimmt uns diese Aufgabe ab. Und wir bezahlen den Zugang zur Plattform durch einen anteiligen Verzicht unserer Einnahmen aus der Vermietung. Wir kennen das Prinzip aus vielen Lebenslagen. Stepstone bei der Job-Suche, Tinder beim Dating, Netflix oder Spotify beim Medienkonsum. Ungefähr eineinhalb Dekaden haben diese Plattformen benötigt, um vollständig in unser Leben vorzudringen. Ein Blick zurück: Vor knapp 15 Jahren waren die Top-Ten-Dax-Werte neunmal so viel wert wie die zehn größten globalen Plattformen zusammen. Vor fünf Jahren lag die Marktkapitalisierung der Top-Ten-Dax-Werte auf demselben Niveau wie der Wert der Top-Ten-Plattformen. Ende letzten Jahres waren die Plattformen dann bereits dreimal so viel wert wie die Top-Ten-Dax-Werte. Ist der Zug also abgefahren? Ja und Nein. Ja, was den B2C-Kontext betrifft. Hier werden wir weder in Deutschland noch in Europa eine signifikante Rolle im Kampf gegen die digitalen Giganten aus den USA und Fernost spielen. Zu groß sind die strukturellen Nachteile eines zersplitterten Binnenmarktes, das Fehlen einer gemeinsamen Förderung von Talent und Technologie. Anders beim B2B-Sektor – hier stehen wir noch am Anfang einer gigantischen Entwicklung.

Mit Wagniskapital finanzierte Startups versuchen seit kurzem mit Plattformmodellen in fast jede B2B-Branche vorzudringen. Ein persönliches Beispiel: Als ich verschwundene Lego-Teile für meine Söhne „nachdrucken“ wollte, landete ich direkt bei Xometry aus den USA. Diese Plattform nimmt Aufträge wie meinen entgegen, zeigt sofort den Preis inklusive Versand und gibt den Auftrag dann an irgend jemanden mit 3-D-Druckern und Fräsen weiter. Selbst wenn das benötigte Teil in Deutschland gedruckt wird, die Kundenschnittstelle wird aus den USA besetzt. Und wenn Sie glauben, dass mein Lego-Beispiel nichts mit der deutschen Industrie zu tun hat, dann irren Sie: Seit Ende 2018 ist Xometry offizieller Tier1-Supplier von BMW. Ein Supplier ohne eigene Fertigung. Wie eine Hotelkette ohne Hotels, solche Airbnb-Analogien kennen Sie ja sicherlich. Apropos Airbnb-Analogien. Haben Sie schon mal von Flexe gehört? Flexe ist ein Unternehmen aus den USA und vernetzt freie Lagerflächen. Im Grunde ein „Airbnb für Lagerhäuser“ – Shared Warehouse oder On-Demand Warehousing heißt diese Industrienische. Neben Flexe haben sich weitere Startups im Markt positioniert und auch etablierte Unternehmen wie UPS (ware2go) oder DHL (DHL Spaces) sind mit eigenen Lösungen ins Rennen gegangen. Das Startup Darkstore fokussiert sich darauf, ungenutzte Lagerflächen im innerstädtischen Bereich zu aggregieren, um Lieferungen am gleichen Tag zu ermöglichen. Darkstore konnte bereits Nike als Kunden gewinnen. Das Beruhigende an diesen Beispielen: Die eingesammelten Gelder der genannten Start-ups sind (noch) vergleichsweise klein im Vergleich zu den gigantischen Summen, die wir aus der B2C-Welt kennen. So hat Xometry bisher 100 Millionen Euro Wagniskapital eingesammelt und Flexe kommt auf etwas über 50 Millionen Euro. Und was passiert derweil in Deutschland?

Sowohl auf Start-up-Seite als auch auf Corporate-Seite scheinen die Zeichen der Zeit erkannt zu sein. Deutschsprachige Wettbewerber zu Xometry sind zum Beispiel Kreatize und Fabrikado. Beide Unternehmen arbeiten mit der hiesigen etablierten Industrie zusammen. Der Baukonzern Zeppelin hat mit seiner Plattform Klickrent (Shared Economy für Baugeräte wie Bagger etc.) bereits 2016 einen eigenen digitalen Ansatz entwickelt. Das Chemie-Unternehmen Lanxess geht mit der Plattform Chemondis ins Rennen, Klöckner baut mit XOM Materials eine Industrieplattform für den Stahlhandel auf, die Lufthansa liefert sich mit dem hauseigenen Aviatar eine Schlacht um Milliarden von Flugzeugdaten, Trumpf treibt IoT-Themen mit seiner Lösung Axoom und im Automobilbereich arbeitet die Zuliefererindustrie daran, über den Datenmarktplatz Caruso den Handel mit Fahrzeugdaten zu etablieren. Und so weiter und so weiter. Aber, eine der spannenden Fragen mit Blick nach vorne lautet: Können wir in Deutschland eigentlich auch groß? Können wir global? Kann Deutschland „nur“ analoge Ingenieurprodukte auf Weltniveau produzieren oder auch digitale Software-Exportschlager? Die Antwort hierauf können nur Sie liefern, liebe Leser. Sie sitzen an den Schalthebeln der Macht und bestimmen über Budgets, Prioritäten, Allianzen und Ambitionsgrad der Bestrebungen. Digitalisierung und Innovationen dürfen keine Alibibeschäftigung (mehr) sein. Digitalisierung gehört nicht nur auf die Agenda von Vorständen und Aufsichtsräten, digitale Kompetenz gehört in die Aufsichtsräte. Wir brauchen eine Neuinterpretation des Aufsichtsrats in seiner Funktion – viel stärker wachstumsfokussiert und inhaltlich herausfordernd. Und ja, dabei werden wir nicht umhinkommen auch über neue Profile in diesen Gremien nachzudenken und sie unter anderem mit digital erfahrenen Personen zu besetzen. Von dort gilt es einen Ruck auszulösen, über die CEOs, die Vorstände, das Top-Management bis hin zum einfachen Angestellten. Es gibt viel zu gestalten auf dem B2B-Spielfeld der Digitalisierung. Und es gibt genauso viel zu gewinnen. Wachstum. Aufbruch. Das wären schöne Schlussworte. Aber – auch das ist ein Merkmal unserer sich immer schneller und schneller drehenden Gegenwart – am Horizont zeichnen sich noch viel fundamentalere Veränderungen als digitale Plattformen und neue Ökosysteme ab. Nehmen wir erneut Airbnb als Beispiel. In obigen Absätzen als leuchtendes B2C-Beispiel und Inspiration für heutige B2B-Plattformen (z.B. Shared Warehouse) aufgegriffen, sieht sich Airbnb einer fundamentalen Gefahr gegenüber.

Dazu ein kurzes Gedankenspiel: Angenommen, Airbnb würde allen Nutzern gehören, ähnlich wie in einer Genossenschaft. Was würde dann passieren? Die Provision (heutige Monopolgewinne von Airbnb) würde genau so viel Geld einbringen, wie benötigt wird, um die Investitionen in die Plattform zu stemmen. Anstatt zentral immer höhere Gewinne einzufahren, würde das Geld durch reduzierte Provisionen bei den Nutzern der Plattform landen. Eine Plattform die sich selbst gehört. Eine bürokratische Utopie? Definitiv mit heutiger Technologie. Stellen Sie sich aber vor, dass die Partizipation mit modernster Technologie einfach, transparent und nachvollziehbar wäre. Immer noch schwer zu glauben? Mitnichten. Ein paar Ex-Uber- und Ex- Google-Mitarbeiter entwickeln seit 2018 einen dezentralen Gegenentwurf zu Airbnb. Das Unternehmen heißt Beenest und nutzt ein eigenes offenes Protokoll. Technologisch spricht man von verteilten Datenbanken und „smart contracts“, die auf einer Peer-to-peer-Infrastruktur all dies ermöglichen. Und falls vieles davon neu und unbekannt für Sie klingt: Ja, noch ist das Unternehmen aus den USA winzig klein.

Ein weiteres Beispiel ist OpenBazaar, ein dezentraler E-Commerce- Marktplatz. So etwas wie Amazon oder ebay, jedoch ohne Plattformgebühren und ohne Einschränkungen für die Nutzer. Ebenfalls auf Basis der Blockchain-Technologie. Blockchains sind im Idealfall vertrauenswürdig, transparent und dezentral. Dadurch können Probleme im Zusammenhang mit Vertrauen, Transaktionskosten und Dokumentation gelöst werden. Ganz weit nach vorne geblickt kann man sich sogar vorstellen, dass alle Arbeits- und Kapitaltransaktionen mithilfe von Blockchain-Technologien dezentralisiert werden. Wenn in einem solchen Szenario Lieferanten, Kunden und Mitarbeiter all ihre Transaktionen über dezentrale Blockchains abwickeln, dann geraten Vermittlungsmodelle unter Druck. Oder etwas plastischer ausgedrückt: Plattformen haben Mittelsmänner erst so richtig erfolgreich gemacht. Blockchain schafft die Mittelsmänner wieder ab.

Entscheider von heute müssen stärker denn je in mehreren Horizonten denken. Gestern haben Sie exzellente Produkte gebaut, heute erweitern Sie diese Produkte um digitale Services. Morgen werden entweder Sie als Unternehmen von einer Plattform zur Standardware reduziert oder Sie betreiben selbst Plattformen. Und übermorgen müssen Sie sich eventuell in einem auf anderen Regeln aufgebauten Wirtschaftssystem gänzlich neu erfinden. Die Geschwindigkeit der aktuellen Veränderungen bringt es mit sich, dass Sie alle Stufen innerhalb einer Dekade durchlaufen könnten. Die größte Herausforderung wird es sein, den jeweils „richtigen“ Weg nach vorne zu finden. Eine Blaupause gibt es nicht.

Autor

Sebastian Herzog

Sebastian Herzog ist Co-CEO bei hy und verantwortet die Business Units „Innovation and Ventures“ und „Web3 and Metaverse“. Bevor Sebastian zu hy kam, gründete und leitete er den Lufthansa Innovation Hub als eigenständige GmbH in Berlin – eine vielfach ausgezeichnete Corporate Innovation Unit. In seinen insgesamt 12 Jahren bei der Deutschen Lufthansa war Sebastian zuvor in der Markt- und Flottenstrategie sowie als strategischer Assistent des Vorstandsvorsitzenden tätig. Sebastian ist zudem Gründer eines Ecommerce Startups und eines Krypto-Index und vereint Corporate-Erfahrung mit Startup-Spirit. Darüber hinaus ist er Redner und Panelist bei führenden Veranstaltungen zu den Themen Transformation und Innovation.