Pocket Guide to Digital Transformation #6

Matthew Fontaine Maury wurde schon zu Lebzeiten als Pfadfinder der Meere bezeichnet. Durch seine Pionierarbeit im Verarbeiten von großen Datenmengen – der Aufbereitung von Millionen von historischen Navigationsdaten inklusive intelligenter (analoger) Mustererkennung – ist er nicht nur zum Gründungsvater der Ozeanographie geworden. Er hat es innerhalb weniger Jahre auch geschafft, einer ganzen Industrie mehrere Millionen US-Dollar pro Jahr durch intelligente Datenanalysen zu sparen und Segelrouten zu definieren, die selbst 175 Jahre später noch modern sind.

Von New York nach San Francisco in nur einundachtzig Tagen

1854 gelang der Flying Cloud, einem Fracht-Segelschiff der Klipper Klasse, etwas Unvorstellbares. Sie stellte einen Segelweltrekord für die schnellste Passage zwischen New York und San Francisco auf, der über 130 Jahre Bestand hatte. In 89 Tagen und 8 Stunden umrundete sie unter dem Kommando von Kapitän Josiah Perkins Cressey das Kap Horn und legte mehr als 16.000 Seemeilen in unter dreizehn Wochen zurück. Ein Rekord, der bis ins Jahr 1989 hielt. Eine außergewöhnliche Leistung, wenn man bedenkt, dass zur damaligen Zeit, in den frühen Tagen des kalifornischen Goldrausches, Schiffe mehr als zweihundert anstrengende Tage für die Passage benötigten.

Abbildung 1: Der amerikanische Klipper Flying Cloud in einem Sturm vor Kap Horn, James E. Buttersworth, 1854, Wikipedia

Für diesen erstaunlichen Quantensprung gab es mehrere Gründe. Zunächst benötigt es natürlich ein tadelloses Schiff der neuesten Generation. Ein brillantes Werk der damaligen Zeit, ausgedacht und entwickelt von Donald McKay. Zudem müssen die außergewöhnliche Fähigkeiten der Navigatorin Eleanor Creesy hervorgehoben werden, die bereits einen ersten Passagenrekord im Jahre 1851 mit der Flying Cloud aufstellte und den Ewigrekord in 1854 ebenfalls anleitete. Den größten Beitrag lieferten aber die ersten globalen Wind- und Strömungskarten mit dem klangvollen Namen „Wind and Current Chart of the North Atlantic, Sailing Directions and Physical Geography of the Seas and Its Meteorology“ des amerikanischen Marineoffiziers und Ozeanographen Matthew Fontaine Maury.

Matthew Fontaine Maury – Der Pfadfinder der See

Matthew Fontaine Maury war der erste, der die Zirkulation von Winden, Meeresströmungen und Bewegungen des Meeresbodens zu allen Jahreszeiten untersucht, erhoben und verarbeitet hat. Auf seinen Vorschlag hin wurde ab 1847 mit meteorologischen Beobachtungen auf fast allen Schiffen der US Marine begonnen. Zudem veröffentlichte er 1854 die erste Tiefenkarte des Nordatlantiks und 1855 sein bahnbrechendes Werk „The Physical Geography of the Sea“, welches als erste Beschreibung der physikalischen Ozeanographie gilt und auf der Sammlung von 1,2 Millionen Datenpunkten beruht. Durch sein Werk erhielt er den Spitznamen „Pathfinder of the Seas“ und wird heute zudem als Vater der modernen Ozeanographie und Marinemeteorologie bezeichnet.

Abbildung 2: Matthew Fontaine Maury, 1855,Wikipedia

Maury begann sein berufliches Leben in der Marine als Fähnrich an Bord des Kriegsschiffes USS Brandywine. Im Alter von 33 Jahren brach er sich bei einem Postkutschenunfall das Bein und zog sich eine lähmende Verletzung zu, sodass professionelle Seereisen für ihn nicht mehr in Frage kamen. Das Glück im Unglück versetzte ihn folgend an einen Schreibtisch im Karten und Instrumente Depot des United States Naval Observatory. Dort fand er Räume vor, die bis zum Bersten gefüllt waren. Muffige Kisten, mit salzwasserbefleckten Büchern, Protokollen, verstaubten Karten und Dokumenten, welche bis ins Jahr 1776 zurückreichten, stapelten sich bis zur Decke. Von seinen Vorgängern geflissentlich mißachtet, studierte der neue Leiter des U.S. Navy Head of Depot of Charts and Instruments fortan Tausende von vergilbten Logbüchern und Karten von Schiffen, mit Aufzeichnungen über Oberflächenwinde, Strömungen, Wasser und Wetter an bestimmten Orten zu allen Jahreszeiten.

Wie Maury im 19. Jahrhundert zum Entdecker von Big Data Analytics und datengetriebenen Services wurde

Das Ziel von Maury war es, Seemannschaften bessere und nützliche Informationen zu liefern. Er war fasziniert von den Routen, die Schiffskapitäne bei der Navigation auf hoher See wählten. Oftmals schienen es indirekte, zufällige und ineffiziente Routen zu sein. Er war überzeugt, dass es bessere Optionen geben müsse. Aber es gab keine Möglichkeit, Schiffskapitäne, die sich schon immer auf Traditionen und anekdotischen Geschichten über gefährliche Gewässer stützten, davon zu überzeugen, dass es alternative und effizientere Optionen gäbe. Also organisierte sein Büro vorhandene Informationen, extrahierte Insights und entwickelte ein datengenerierendes Meldesystem für Schiffe, um weitere Informationen über Seegänge und Wetter zu sammeln. So konnte man ein klimatisches Bild der Oberflächenwinde und -ströme aller Ozeane und bestmögliche Ozeanwege für vorbeifahrende Schiffe auf See entwickeln und Maury wurde zu einem der ersten großen Datenpioniere der Welt.

Abbildung 3: Die physische Geographie des Meeres, British Library

Maury kann als Urvater der Big-Data-Analyse und sogar als Vorläufer von Google bezeichnet werden. Er nahm öffentliches vorhandenes Material, das wertlos schien, extrahierte Informationen und verwandelte sie in außergewöhnlich nützliche Daten. Er hatte verstanden, dass ein besonderer Wert in großen Datenmengen liegen kann, der in kleineren Datenmengen häufig nicht zu finden ist. Er sah, dass die Protokolle, wenn sie zusammengestellt und analysiert wurden, Wissen enthielten, welches Handelsrouten grundlegend reformieren und Transportzeiten drastisch verkürzen kann. Er verwendete mehrere Datenpunkte, um seine Schlussfolgerungen zu sammeln und zu validieren. Er kombinierte die Daten von Meeresströmungen, Winden und Schiffspositionen, um Muster zu bestimmen, und konnte, basierend auf Analysen, Seeleute auf schnelleren und weitaus weniger gefährlichen Routen beraten.

Datengetriebene Wertschöpfung im 19ten Jahrhundert

Mit dem Versprechen auf diese enormen wirtschaftlichen Gewinne erfuhren die gesammelten und verarbeiteten Informationen plötzlich einen ganz neuen, bisher unvorhersehbaren Wert. Das Team um Maury entwickelte gut definierte Navigationsrouten, die dominierenden Windverhältnissen folgten. Die Reise von New York nach Rio de Janeiro konnte zum Beispiel um 32 Tage reduziert werden, nur indem man vorherrschenden Winde und Meeresströmungen besser ausnutzte. Maury konnte auch zeigen, dass die Nutzung der längeren ostwärts gerichteten Segelroute um Kap Horn herum tatsächlich schneller war als die kürzere westlich gerichtete Segelroute um das Kap der Guten Hoffnung, wenn man von Australien nach Europa oder Nordamerika segeln wollte. Schon sieben Jahre nach der ersten Publikation sparten Maurys „Sailing Directions“ den Schiffsflotten weltweit ca. 10 Millionen US-Dollar pro Jahr ein.

Abbildung 4: Wind- und Strömungskarte, Matthew Fontaine Maury

Maury nutzte seine Position in der Marine ebenfalls dazu, um einen Log Standard zu schaffen. Er bestand darauf, dass alle Schiffe der US Navy Protokolldaten in einem standardisierten Format übermittelten. Auch konnte er die Hilfe von Handelsschiffen in Anspruch nehmen, die ihre eigenen Daten zum Wohle aller teilen wollten. Ein frühes Beispiel für ein datengetriebenes Netzwerk, welches von einem Orchestrator auf eine gemeinsame Wertschöpfung ausgerichtet wurde. Indem Maury sich auf das Problem konzentrierte, wie man effizienter durch die Meere navigieren konnte, war er in der Lage, bereits existierende Daten zu nutzen, um Hypothesen zu testen und neue Werte für existierende Teilnehmer und neue Unternehmen zu gewinnen. Er war in der Lage, die Daten zu verfeinern, die Datengenauigkeit über Datenintegration zu erhöhen und die Daten für eine breite Reihe von Problemen und Anwendungen zu nutzen. Dazu gehörte u.a. die Bestimmung des Kurses für das erste transatlantische Telegrafenkabel entlang einer flachen Ebene zwischen Irland und Kanada im Jahre 1858. Oder die Nachzeichnung des Kurses der Neptunumlaufbahn nach der Planetenentdeckung im Jahre 1846. Oder eben das Möglichmachen des Weltrekordes der Flying Cloud, weil Eleanor Creesy, die Navigatorin des Schiffes, zu den ersten gehörte, die Maurys Karten verwendete.

Zurück zu den Anfängen: Smarte Analysen und Problemlösungen statt fruchtloser Datengenerierung und Datenhortung

Obwohl Segelschiffe gegenwärtig kaum noch zum globalen Handel oder Tourismus beitragen und damit nahezu von den Weltmeeren verschwunden sind, werden die von Maury entwickelten Routen noch heute von Schiffen auf der ganzen Welt genutzt. Das Beispiel zeigt, dass smarte und intelligente Problemanalysen allen Big Data Versuchen überlegen sind, die versuchen die Gesamtheit aller verfügbaren Daten zu sammeln und dann auf zufällige algorithmische Epiphanien hoffen. Erst existierende Datensätze in Kombination mit spezifischen Fragen, die vielleicht sogar bereits mit den bestehenden Datensätzen beantwortet werden können, ermöglichen Hypothesen, welche durch neue Daten getestet und validiert werden können. Es geht nicht darum Daten anzuhäufen, sondern darum die richtigen Fragen kreativ zu stellen. Wenn dann noch ein Mehrwert für alle Beteiligten gegeben ist, können Innovationen entstehen, die nachhaltig über Jahrhunderte wirken und ganze Branchen verändern.