Einkäufer als Innovationstreiber

Anfang September 2019 hatten wir bei Axel Springer unser Empex-Festival. Empex setzt sich aus den Begriffen „Employee” und „Experience” zusammen, dementsprechend standen für die Mitarbeiter hier fünf Tage lang New-Work-Themen wie kultureller Wandel, Wachstumstreiber der Zukunft und damit verbundene Konzepte wie Design Thinking, Scrum oder Culture Mapping im Mittelpunkt. Das traditionelle und zuweilen zum politischen Feindbild stilisierte Printmedienunternehmen hat sich zu einer „Technology und Media Company“ und zum führenden europäischen Digitalverlag entwickelt. Basierend vor allem auf erfolgreichen Investitionen in Tech-Unternehmen wie StepStone, Business Insider und idealo erwirtschaftet die Axel Springer SE heute über 87 Prozent ihres EBITDA mit digitalen Geschäftsmodellen.

Eine digitale Transformation wie die von Axel Springer hat viele Erfolgsfaktoren, einer der wesentlichen ist jedoch das intern gepredigte Mantra „Disrupt Yourself”, oder auf Deutsch: bevor ein Start-up meinen Markt „disruptiert”, suche ich lieber selber nach Wegen, diese Gefahr in eine Wachstumsopportunität zu wandeln. Klingt nach Bullshit-Bingo? Gut, dann konkretisieren wir das.

Erfolg durch Vernetzung und Investitionen

Ein Beispiel: Jahrzehntelang konkurrierten die Qualitätszeitungen FAZ, SZ und WELT (letztere gehört zu Axel Springer) um den attraktiven Markt der Job- und Immobilienkleinanzeigen in der Zeitung, wobei die FAZ stets den ersten Platz in diesem Bereich belegte. In den 2000er Jahren dann wurden Online-Anzeigenportale immer stärker. Statt ausschließlich am schrumpfenden, gedruckten Kerngeschäft festzuhalten, reagierte Axel Springer mit Investitionen in die Angreifer des Geschäftsmodells: z.B. StepStone, Immowelt und Immonet. Heute ist das Kleinanzeigengeschäft der WELT wirtschaftlich unbedeutend für den Konzern, während StepStone als digitale Variante im Jahr 2018 mit ca. 603 Mio. € Umsatz und ca. 245 Mio. € EBITDA das mittlerweile größte und profitabelste Unternehmen der Gruppe ist.

Axel Springer hat sehr früh angefangen, neben seinem Kerngeschäft in neue digitale Geschäftsmodelle zu investieren. Der bereits Anfang der 1990er Jahre ins Leben gerufene „Geschäftsbereich Elektronische Medien” investierte seit den 2000ern in disruptive und skalierende digitale Geschäftsmodelle. Neben dem auf Later-Stage-Investments (digitale Unternehmen mit gestandenem, gewinnabwerfendem Geschäftsmodell) fokussierten Bereich „Invest & Grow” gibt es weitere Investmenteinheiten, z.B. die Axel Springer Digital Ventures, die Acceleratoren Axel Springer Plug & Play (der Geburtsstätte des deutschen FinTech-Unicorns N26) sowie APX, ein gemeinsames Programm von Axel Springer und Porsche. Zusätzlich existieren Scouting- und Investmentabteilungen u.a. bei den Tochtergesellschaften StepStone, Spring (der Übermarke von BILD und WELT Digital), idealo, Awin sowie eine Dependance im Silicon Valley.

Ökosystem 2.0 – nun müssen die Einkäufer ran!

Axel Springer ist natürlich nicht das einzige Unternehmen, was sich hinsichtlich Startup- und Innovations-Scouting sowie -Investments breit aufstellt. Die Volkswagen Group verfügt allein über 25 Innovationseinheiten. In Deutschland gibt es insgesamt aktuell ca. 230 Innovationseinheiten, am Standort Berlin sind es knapp 60. Somit existieren Mitte 2019 etwa ein Drittel mehr Innovationseinheiten als noch ein Jahr zuvor. Auch die Zahl der Startup-Neugründungen ist enorm: im ersten Halbjahr 2019 wurden in Deutschland 1.033 Startups gegründet, das entspricht durchschnittlich knapp 40 Neugründungen pro Woche und wird bei fortlaufendem Tempo die Zahl der letzten Jahre deutlich übertreffen. Die Menge an Gründungen führt auch dazu, dass das Startup- und Tech-Ökosystem immer schwieriger zu überblicken wird.

Das Angebot an hochinnovativen und disruptiven Startups scheint nahezu grenzenlos und in jeder Nischenbranche, zu jedem Pain Point und jedem entstehenden Kundenbedürfnis tummeln sich bereits eine Unmenge an jungen Unternehmen. Mittlerweile sind es nicht mehr nur Investmentmanager eines Unternehmens, die sich mit Startups zum Zwecke der Übernahme beschäftigen. Vertriebsstrategen suchen beispielsweise nach AI-unterstützten Modellen der Lead-Generierung und -Verteilung. Recruiter suchen Lösungen zur automatisierten Vorqualifikation von Bewerbern. Juristen nutzen anwendungsfallspezifische NDA-Generatoren. Produktmanager und IT-Leiter nutzen neue Plattformen zum Auffinden passender Freelancer. Inzwischen strecken fast alle Bereiche ihre Fühler nach Startups und Innovatoren aus, mit denen sie die im (Groß-)Unternehmen eingeschwungenen Prozesse beschleunigen oder um Neuerungen bereichern wollen. Daher entwickeln immer mehr Unternehmen Partnerschaften mit Startups. Die folgende Abbildung zeigt rein exemplarisch, in welchen Kern- und Supportbereichen Startups Probleme von Großunternehmen lösen können.

Schluss mit: Lieber Einkäufer – handel am Ende bitte noch um fünf Prozent runter!”

Doch welche Rolle spielt bei der Entwicklung von Startup-Partnerschaften eigentlich der Einkauf? Meiner persönlichen Erfahrung nach wird die Fachabteilung (z.B. Produktentwicklung oder Marketing) in neun von zehn Fällen eine Kooperation mit einem Startup selbst vorantreiben, den (ihrer Meinung nach) richtigen Partner für einen Anwendungsfall (z.B. eine neue Software) selbst auswählen und – nur im Fall, dass eine gewisse Budgetgrenze überschritten wird – ganz am Ende den Einkauf einschalten und diesen bitten, „noch ein paar Prozent rauszuholen”. Der Einkauf fühlt sich dann (verständlicherweise) zu spät einbezogen. Es folgt oft ein mehrwöchiger Prozess, in welchem der Einkauf Synergien und Rahmenverträge für das ganze Unternehmen eruiert, während die Fachabteilung den Vertrag eigentlich schon gestern unterzeichnet haben wollte. Ein Loss-Loss-Engagement. Ich wünsche mir diesen (ineffizienten) Prozess eigentlich ganz anders… Um hier eine Veränderung zu erwirken, lohnt es sich, im ersten Schritt einen Blick auf die Mankos im Ablauf zu werfen.

Bei der Auswahl eines (Startup-)Partners bzw. Serviceanbieters gehen wir meist sehr opportunistisch vor. Wir treffen ein Startup zufällig auf einer Messe. Wir googeln ein Problem und finden Lösungsanbieter, die dank fortgeschrittener SEO-Fähigkeiten sichtbar für uns sind. Wir erhalten eine einseitige Empfehlung eines Bekannten. Ob wir dabei den optimalen Startup-Partner finden, wage ich mal zu bezweifeln. Stattdessen würde ich mir wünschen, dass mich ein Experte beim Auffinden des perfekten Partners zur Lösung meines Problems unterstützen würde.

Und genau hier kommt der heutige Einkäufer ins Spiel. Anstatt sich auf das Optimieren von Lieferantenpartnern zu konzentrieren, sollten sie sich vielmehr als „Gatekeeper für Innovation im Unternehmen” positionieren. Gatekeeper im positiven Sinne, d.h. die Kernaufgabe des heutigen Einkäufers sollte die aktive Identifikation und Priorisierung von Innovationspartnern sein, sowie der Rollout der besten Lösungen im gesamten Unternehmen. Egal, wie man die Rolle auch nennt: aus dem heutigen Procurement Manager sollte ein Innovation Manager, Startup Scout, Partnership Specialist oder Change Agent werden.

Procurement Manager müssen sich zu Innovation Managern weiterentwickeln

Mein guter Freund Stephan Chassaing de Bourdeille, kürzlich auf einer Veranstaltung als „Europas digitalster Einkäufer” tituliert, ruft all seinen Fachkollegen kontinuierlich zu, sie sollen keine Einkaufsbücher mehr lesen, sondern stattdessen Literatur zu Innovation, Disruption und Ökosystemen. Dies ist meiner Meinung nach auch der (mittelfristig) einzige Weg, wie sich dieser Berufszweig sinnvoll erhalten kann. In dem Mix aus steigender Preistransparenz, B2B-Einkaufsplattformen und (perspektivisch) vollautomatisch getriggerten Einkaufsprozessen („Alexa, bestell mir 50.000 Bögen Papier beim günstigsten Anbieter”) kommt ein Procurement Manager heutiger Gattung wenig bis gar nicht mehr vor. Durch die beschriebene Repositionierung jedoch hat er die Möglichkeit, aus der drohenden Disruption ganz neues Potenzial zu schöpfen. Ganz nach dem bei Axel Springer vorgelebten und von Christoph Keese niedergeschriebenen Mantra: “Disrupt Yourself”.

So wie Investmentmanager beim Startup- und Target-Scouting klare Suchkriterien haben (z.B. Branche, Technologie, strategischer Fit, Größe, Phase) und den Markt dementsprechend strukturiert und kontinuierlich scannen, sollte der (in Ermangelung eines besseren Terminus nenne ich ihn mal) Innovation Manager zusammen mit den Fachabteilungen Anwendungsfälle definieren, bei denen Startup-Partnerschaften Sinn machen und anschließend die passenden Tools nutzen, um den Markt ebenso strukturiert und kontinuierlich nach den besten Partnern zu durchsuchen und den Kollegen diese bereitzustellen.

Bei Axel Springer hy sind sowohl Scouting als auch Startup Relationship Management integrale Bestandteile unserer Arbeit zur Unterstützung des Auf- und Ausbaus der Ökosystem-Strategie von Unternehmen. Dies inkludiert die bessere Vernetzung mit Startups, die Identifikation von Disruption und Wachstumsfeldern und das Auffinden potenzieller Partnerunternehmen oder Investmentziele. Wir haben viele Scouting-Tools ausprobiert, doch mit mäßigem Erfolg: entweder war der regionale Fokus auf die USA beschränkt, die Datenqualität und/oder Suchkriterien unzureichend oder die Anwendung war schlichtweg nicht besonders benutzerfreundlich. Also haben wir uns entschlossen, unser eigenes Startup-Relationship-Management-Tool zu bauen, in welchem wir all unsere Startup-Kontakte (anonym) sammeln, sodass jeder bei hy weiß, welcher Kollege in welches Startup Kontakte besitzt. Um passende und somit auch neue Startups und Kooperationspartner für uns sowie unsere Kunden zu finden, haben wir eine eigene Scouting-Technologie entwickelt, die wir jetzt als „Ecosystem Manager” auch vermarkten. Wir glauben, dass es Tools wie diese sind, die Unternehmen dabei helfen, in sich immer schneller entwickelnden Tech- und Startup-Ökosystemen disruptive Innovationen frühzeitig zu finden und für sich zu nutzen.

Quellen:
StepStone-Geschäftszahlen 2018, S.29
Volkswagen Digital Labs
Anzahl Innovation Hubs Berlin & Deutschland, S.6
Gründerszene, Startup-Gründungen Berlin und Deutschland H1 2019

Autor

Dr. Sebastian Voigt

Dr. Sebastian Voigt ist Partner bei hy und verantwortlich für die Pricing and Sales Business Unit. Sebastian studierte Wirtschaftsinformatik und promovierte an der TU Darmstadt zu Monetarisierungsstrategien von digitalen Marktplätzen. Seit über 15 Jahren entwickelt er profitable digitale Geschäftsmodelle. Er arbeitete u.a. als Director bei der Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partners, leitete die Projektteams der Investmentholding von Axel Springer und nahm operative Führungspositionen innerhalb von Bertelsmann und ProSiebenSat1 ein.