Veränderung, welche Veränderung?

Hätte der Mensch einen Wunsch frei, würde er sich Folgendes wünschen: Bitte keine Veränderung! In der komplizierten Welt zu überleben, ist schwer genug. Sie zu verstehen, noch viel schwerer. Am allerschwersten aber ist es, sie gestern verstanden zu haben, und trotzdem keine Ahnung davon zu haben, was heute geschieht. In diese Bredouille geraten wir früher, als wir denken. Technologie verändert die Welt, schneller als wir denken können. „Das Leben wird nach vorne hin gelebt und nach hinten hin verstanden“, hat Søren Kierkegaard gesagt, und seit seinen Zeiten hat sich nichts daran geändert. Im Gegenteil: Die Diskrepanz zwischen Leben und Verstehen ist noch viel größer geworden. Technologie überfordert das menschliche Gehirn nicht nur zufällig, sondern strukturell. Ist Künstliche Intelligenz erst einmal richtig erfunden, erkennen wir die klügsten Computer und Roboter daran, dass sie sich kolossal mit uns langweilen. Wir können ihnen geistig nicht mehr viel Interessantes bieten. Wir stehen an der Schwelle eines Zeitalters, in dem wir intellektuell nicht länger satisfaktionsfähig sind für die künstlichen Geschöpfe, die wir selbst erschaffen haben.

Transformation ist nichts anderes als die Verwandlung des Gewohnten in das Ungewohnte aufgrund der Vermutung, dass es beim Gewohnten nicht bleiben kann. Genau deswegen fällt Transformation so schwer. An ihrem Anfang steht immer die Einsicht, dass es nicht so verharren kann wie jetzt. Schon daran scheitern viele Transformationen. „Was spricht denn dagegen, dass wir einfach so weitermachen wie bisher?“, fragen viele.

Interessanterweise gibt kaum jemand eine Antwort auf Fragen wie diese. Es ist den Treibern der Neuerung die Zeit nicht wert, den Zweiflern zu erklären, was um sie herum geschieht. Die Treiber haben genug zu tun mit ihren Innovationen. Sie halten sich nicht auf mit den Skeptikern oder Bewegungsunlustigen, obwohl sie gut daran täten, sich um sie zu kümmern. Das Ausbleiben von Antworten wird von den Zweiflern fehlverstanden als: Es gibt da nichts, was sich bewegt. Sie wägen sich in Sicherheit und verpassen so die Chance, selbst die neuen Welten zu gestalten, die um sie herum entstehen.

Wer sind jene, die Transformation gegen alle Widerstände und Zweifel ins Werk setzen? Es sind die Menschen, die ihre Strategien aus Prinzipien ableiten statt aus der Vergangenheit. Die Vergangenheit ist ein schlechter Ratgeber, wenn wir sie einfach in die Zukunft fortschreiben. Extrapolation funktioniert nur dann einigermaßen zuverlässig, wenn sich das Umfeld kaum verändert. Bleiben die Parameter weitgehend gleich, können wir aus den Beobachtungen der Vergangenheit die Zukunft recht treffsicher vorhersagen. Doch ändern sich die Rahmenbedingungen, führt Extrapolation fast zwangsläufig in die Irre. Dann schlägt die Stunde der logisch gut geschulten Denker, die in der Zukunft eine Funktion von Prinzipien statt von Beobachtungen aus der Vergangenheit sehen.

Ein Beispiel: Elon Musk hat den Tesla von Anfang an als ein elektrisch angetriebenes, selbstfahrendes Auto konzipiert. Warum? Weil er wusste, dass Verbrennungsmotoren keinen Bestand haben können, wenn Luftverschmutzung zunimmt, Polkappen schmelzen und Ölquellen versiegen. Der Elektroantrieb kommt, weil er kommen muss. Weil es denklogisch keine andere Möglichkeit gibt. Ob Brennstoffzellen, Wasserstoff oder Batterien den Ton angeben würden, konnte Musk bei der Tesla-Gründung nicht wissen. Opportunistisch entschied er sich für die Technologie, die am einfachsten und billigsten zu haben war: Batterien. Elektrisch aber wird das Auto auf jeden Fall werden – das wusste er.

Zudem war Elon Musk immer klar: Die Menschen fahren gern von A nach B, aber sie lenken nicht gern. Selbst zu lenken, ist ein notwendiges Übel mangels Alternative. Sobald die Hände vom Lenkrad genommen werden dürfen, schauen die Menschen Filme, schreiben Mails, kaufen ein, buchen ihren Sommerurlaub und spielen Spiele. Die bisherige Geschichte des Automobils schien zu suggerieren, dass Menschen selbst das Steuer führen möchten, weil es angeblich so viel Spaß bereitet, ein Fahrzeug zu lenken. Doch Elon Musk wusste – vom Prinzip her denkend: Spaß macht es den Leuten zwar, durch den Raum bewegt zu werden. Fast gar keinen Spaß aber bereitet es, in der Rush Hour an der roten Ampel im Stau zu stehen und mit 15 Stundenkilometern Durchschnittsgeschwindigkeit durch den Novemberregen zum Arbeitsplatz zu kommen, während auf dem Smartphone die wichtigen Nachrichten reihenweise klingeln, ohne dass man sich ihnen widmen darf, weil das viele Punkte in Flensburg und einen dicken Strafzettel kostet.

Erfolgreiche Transformation ohne aus Prinzipien hergeleitete Schlussfolgerungen gibt es nicht. Der Mensch – gewohnt an den Schutz des Gewohnten – bewegt sich nicht freiwillig ohne zwingenden Grund. Es wäre ihm auch nicht zu raten. Wir alle sind Nachfahren von Tieren, die überlebt haben, weil sie im entscheidenden Moment vorsichtiger waren als ihre leichtsinnigen Nachbaren. Die Hallodris, die Draufgänger, die Haudegen, die Leichtsinnigen landeten oft genug auf den Friedhöfen, bevor sie sich vermehren konnten. Die Evolution belohnte die Mittel- bis Ganz-Vorsichtigen. Stellen wir uns ruhig selbstbewusst in ihre Tradition.

Verstehen wir den Zwang zur Transformation nicht als Einladung zum Leichtsinn. Sondern als Aufforderung, unsere Köpfe zu zermartern auf der Suche nach den richtigen Prinzipien und ihren logisch zwingenden Ableitungen. Nur mit zwingender Logik finden wir den richtigen Weg. Und nur mit dem richtigen Weg überzeugen wir unsere Chefs, Kolleginnen und Mitarbeiter, das Gewohnte loszulassen und etwas Neues zu wagen.

Die Widerstände gegen Transformation sind gewaltig. Ich kenne kein Unternehmen, das sich leicht täte mit seinem Umbau. Dort, wo es gelingt, steht fast immer eine charismatische, kluge, intellektuell begabte und rhetorisch gesegnete Persönlichkeit im Mittelpunkt. Keine Organisation transformiert sich von selbst. Jede Organisation bedarf der luziden, begeisternden Führung. Und fast jede Führung muss ihre Organisation mit Engelszungen vom eigenen Glück überzeugen und mit sanfter Hand dorthin zwingen. Transformation bedeutet in gewisser Weise Zwang. Er geht nicht aus von wirtschaftlicher Gewalt oder organisatorischer Macht. Sondern von der zwingenden Wirkung seiner denklogisch hergeleiteten Argumente. Transformation, könnte man sagen, ist die Wirklichwerdung überzeugend zu Ende gedachter Gedanken. Anders geht es nicht. Transformation ist zuallererst eine intellektuelle Disziplin. Was sie an Taten hervorbringt, hat sie zunächst an Denkarbeit geleistet.

Das ist es, was erfolgreiche Transformation so aufregend und selten macht: dass ein überlegener Gedanke Gestalt in der Wirklichkeit annimmt, weil er so klug und so stark ist, dass die Natur gar nicht anders kann, als ihn in die Tat umsetzen.

Energie ist Masse mal Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat, sagt Einsteins berühmte Formel. Energie kann Masse werden – und umgekehrt. So ist es in der Wirtschaft auch: Klare, zwingende Gedanken verwandeln Prinzipien in reale Produkte, Dienstleistungen und Märkte. Wer transformieren will, der denke scharf nach. Er wird nichts erreichen, wenn er aus den falschen Prinzipien die falschen Schlussfolgerungen zieht. Weiter kommt nur, wer die Prinzipien versteht, die Zukunft gestalten. Und wer die Gedanken in seine Firma trägt, hat den den Grundstein für seine Zukunft schon gelegt.

Autor

Christoph Keese

Christoph Keese ist Gesellschafter und Co-CEO von hy und begleitet namhafte Unternehmen und Regierungsinstitutionen bei Fragen der digitalen Transformation und technologischen Innovation. Der Journalist, Wirtschaftswissenschaftler, Verlagsmanager und Bestsellerautor arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre an der Digitalisierung von Geschäftsmodellen. Er gehört zu den Mitgründern der Financial Times Deutschland, leitete als Chefredakteur die WELT am Sonntag und WELT Online und trieb, zuletzt als Executive Vice President, die Digitalisierung bei Axel Springer voran.