Vom Pipeline-Business zum Ökosystem: SaaS-Companies erfinden sich neu

Wer bei Wikipedia nach dem Begriff Ökosystem schaut, der findet dort folgende Definition: Ein Ökosystem ist ein „dynamischer Komplex von Gemeinschaften aus Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen sowie deren nicht lebender Umwelt, die als funktionelle Einheit in Wechselwirkung stehen.“ Das Ökosystem ist skalenunabhängig und kann sich von einem sich zersetzenden Baumstumpf bis zu einer den gesamten Erdball umfassenden Biosphäre erschließen. Ökosysteme sind offen (d.h. besitzen Schnittstellen zu ihrer Umwelt), dynamisch (d.h. entwickeln sich fortlaufend weiter) und komplex (d.h. es gibt viele Formen der Interaktionen zwischen den Strukturelementen des Ökosystems). Kommt die „richtige“ Kombination an Organismen in einem Ökosystem zusammen und agieren diese „zielführend“ miteinander, schaffen sie einen fruchtbaren Lebensraum, der sich schneller ausdehnen kann, als es einzelne Organismen ohne diese Interaktion schaffen könnten.

Ökosysteme – mehr als nur Plattformen

Was in der Natur funktioniert, hat mittlerweile auch in der (Digital-)Wirtschaft Anwendung gefunden. Die Definition eines Ökosystems ist hier gar nicht so anders. Tauscht man Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen gegen Unternehmen, Technologie und Kunden aus, so wird aus einem ökologischen Ökosystem ein ökonomisches Ökosystem, also ein wertschöpfendes Netzwerk verschiedener Akteure, die ihren Kunden gemeinsam ein besseres Angebot machen können, als wenn sie alleine agieren würden.

Die acht börsennotierten Unternehmen mit der höchsten Marktkapitalisierung (Apple, Microsoft, Amazon, Alphabet, Facebook, Tencent, Tesla und Alibaba) sind Ökosystem-Firmen. Ihr Erfolg wirft die Frage auf: Sollte es nicht jedes Unternehmen anstreben, ein Ökosystem zu betreiben?

Ökosysteme stellen eine Weiterentwicklung des Plattform-Modells dar, wie wir es seit den 1990er Jahren durch Geschäftsmodelle wie eBay, Amazon oder StepStone kennen. Auf Plattformen kommen (meist zwei) unterschiedliche Gruppen zusammen (z.B. Anbieter und Nachfrager), um eine (im weiteren Sinne) Transaktion durchzuführen. Die Zielgruppen verfolgen dabei meist nur ein Ziel: so will ein eBay-Seller etwas verkaufen, und ein eBay-Shopper möchte ein Produkt erwerben. Orchestrator eBay selber zieht den Mehrwert seines Schaffens durch das Zusammenbringen beider Parteien auf seiner Plattform mit klar vorgegebenen Regeln. Für beide Kundengruppen bestehen positive Netzwerkeffekte, denn je mehr Verkäufer es gibt, desto attraktiver ist die Plattform für die Käufer – und umgekehrt. Ein wunderschönes positives Flywheel.

Der Ökosystem-Gedanke setzt genau hier an, geht jedoch einen Schritt weiter. Ein Ökosystem mehr als nur eine Plattform: es bleibt nicht bei wenigen Typen an Marktteilnehmern und das Angebot an möglichen Leistungen ist deutlich größer. Rückwirkend sehen wir, dass Ökosysteme vor allem von Tech- (oft SaaS-) Unternehmen mit einem klaren, spitzen Produktfokus ins Leben gerufen wurden. Sobald sie eine kritische Masse an Kunden erreicht haben, öffnen sie ihr System immer mehr für weitere Anbieter, um Wachstumsgrenzen zu überwinden und die Wertschöpfung mehr und mehr zu externalisieren. Die Idee dahinter: Nicht alles muss selbst entwickelt werden. Es gibt oft (also: fast immer) jemanden, der es besser und effizienter kann. Anstatt also das Produkt um eine Vielzahl an immer weiter vom Kern entfernten Features weiterzuentwickeln, werden offene Schnittstellen geschaffen, um weiteren Anbietern mit ihren Dienstleistungen den Zugang zu den eigenen Kunden zu verschaffen. Der Orchestrator des Ökosystems bleibt dabei primärer Kundenkontakt. Das Risiko, Kunden an Ökosystem-Partner (früher Konkurrenten genannt) zu verlieren, ist gering, da deren Leistungen stark in das Produkt des Ökosystem-Orchestrators integriert sind.

Insbesondere für Software- und Technologieunternehmen ist die Evolution vom Pipeline-Geschäft zum Ökosystem sinnvoll. So kann statt dem siloartigen Verkaufen einer proprietären Software an einen Kunden (ohne deren Interaktion mit weiteren Kunden oder Partner) die Nutzung von Netzwerkeffekten das Wachstum beschleunigen. Verkaufe ich meine Softwarelösung im Pipeline-Geschäft, gewinne ich einen weiteren Kunden für mich – mehr nicht. Betreibe ich ein Ökosystem, gewinne ich einen weiteren Kunden für mich und alle meine Ökosystempartner im Netzwerk. Der Wert des Ökosystem-Netzwerks wächst dadurch schneller.

Schauen wir uns ein paar Beispiele von Unternehmen an, die diesen Schritt vom Pipeline-Geschäft zum Ökosystem bereits erfolgreich gegangen sind:

  • Apple, einst reiner Hardwareanbieter, hat ein gigantisches Hardware- und Software-Ökosystem aus Computern, Smartphones, Uhren, Betriebssystemen, Softwaremarktplätzen und Medienangeboten geschaffen. Ökosystempartner (denken wir mal gedanklich an einen Spieleentwickler) können ihre Inhalte bei Apple vertreiben (AppStore), in Apple’s Gaming Portal einbinden (Apple Arcade) und auf sämtlichen Endgeräten laufen lassen (iOS).
  • Shopify startete als E-Commerce-Produktbaukasten, mit dem Händler ihre Waren (erstmalig) online vertreiben konnten. Die ersten Services wie Bestellungsverfolgung, Bestandsverwaltung und Analysefunktionen wurden ausschließlich selbst entwickelt, ehe mittels API-Schnittstelle und App-Store externe Entwickler ihre Tools und Apps direkt an die Shopify-Kunden verkaufen konnten. Heute ist Shopify einer der führenden E-Commerce Ökosysteme und macht mit der Ökosystemwertschöpfung sogar Amazon Konkurrenz.
  • Stripe wurde 2010 als Online-Zahlungsabwicklungsdienst gegründet, um das Problem der Zahlungsabwicklung vieler E-Commerce-Unternehmen zu lösen. Stripe entwarf eine skalierbare, entwicklerorientierte und sofort einsatzbereite Zahlungsplattform. Mit nur wenigen Zeilen Code wurde Stripe in den eigenen Shop integriert. Die einfache Implementierung führte zu einer breiten Adaption bei Kunden und Entwicklern. Durch diese bietet Stripe heute ein Ökosystem an Services rund um Payment an.
  • Personio, das HR-Tech Startup, das seit 2021 als Unicorn gilt, hat bis vor kurzem HR-Lösungen als SaaS an Startups und SMEs vertrieben. Vor einigen Wochen hat Personio einen Marktplatz ins Leben gerufen, in welchem weitere Produkte wie Slack oder Peakon an Personio via API angebunden werden können. Dabei wird Personio vom HR-SaaS zum HR-Ökosystem – oder im firmeneigenen Jargon zum „one-stop shop for all HR-related integrations“.

Investoren lieben Ökosysteme

Dass Ökosysteme von Investoren geliebt werden, zeigt der Vergleich von Enterprise Value/Sales Multiples verschiedener Geschäftsmodelle am Beispiel des e-Commerce:

Während traditionelle e-Commerce Player wie asos, Boozt, oder Hello Fresh jeweils Multiples von 2x bis 3x aufweisen, erreichen e-Commerce Ökosysteme wie Shopify oder Square Multiples von jeweils 48x und 12x für 2021. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Ökosysteme sind hochskalierbar, sehr profitabel und ermöglichen Wachstum bei reduzierter Kapitalintensität. Alles, was sich ein Investor wünscht. Daher erscheint es für SaaS-Companies und Tech-Unternehmen besonders sinnvoll, Ökosystem-Strategien als Evolution eines erfolgreichen Pipeline-Businesses weiterzuentwickeln.

Ganz wichtig beim Aufbau eines Ökosystems ist die frühzeitige Definition der eigenen Rolle. In Ökosystemen gibt es (angelehnt an das Ecosystemizer-Framework hier anhand eines Software-Ökosystems gezeigt) drei Rollen:

  • Wenige Enabler, die die Technologie oder Infrastruktur des Ökosystems zur Verfügung stellen (z.B. die Browser, über die die Anwendungen erreicht werden)
  • Viele Realizer, die die eigentliche Leistung erbringen (z.B. die App-Entwickler, die Mehrwertleistungen entwickeln und vermarkten)
  • Einen Orchestrator und Chefarchitekten des Ökosystems, der Kunden und Realizer (z.B. über einen App-Marktplatz) zusammenbringt (z.B. die oben genannten Apple, Shopify, Stripe oder Personio)

 

Quelle: www.ecosystemizer.com

Welche Rolle sollten Unternehmen in einem Ökosystem also anstreben? Richtig: die des Orchestrators. Enabler zu werden ist extrem kapitalintensiv und für die meisten Firmen daher unerreichbar. Realizer nutzen das Ökosystem als einen oder den Vertriebskanal. Ihre Abhängigkeit vom Ökosystem ist groß, ihre eigene Relevanz für das Konstrukt meist eher gering.

Bin ich bereit für (m)ein Ökosystem?

Ökosystem-Strategien gehören mittlerweile zum Business Strategy 101. Sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft gibt es zahlreiche vermeintliche Erfolgsrezepte zum Aufbau von Ökosystemen. Was dabei allerdings oft in den Hintergrund gerät, ist die Frage nach den Voraussetzungen für Ökosystem-Strategien. Bevor Unternehmen sich damit beschäftigen, wie sie ihre Ökosysteme skalieren können und langfristig positionieren können, müssen vier Voraussetzungen erfüllt sein, um eine Ökosystem-Strategie einleiten zu können.

Voraussetzungen Ökosystem Strategie

  1. Ein initialer Produktfokus muss einen breiten Kundenstamm generieren.
  2. Der eigene Kundenstamm muss für potenzielle Ökosystemteilnehmer wertvoll sein.
  3. Die Leistungen der Ökosystemteilnehmer müssen bestimmt und abgegrenzt werden.
  4. Die Einbindung weiterer Ökosystemteilnehmer muss technisch ermöglicht werden.

Voraussetzung 1: Ein initialer Produktfokus muss einen breiten Kundenstamm generieren

Plattform-Ökosysteme entstehen meistens, indem ein am Markt erfolgreiches Unternehmen anderen Anbietern ermöglicht, mit seinen eigenen Kunden oder Usern zu interagieren. Das setzt allerdings einen Kunden- oder Userstamm voraus. Ohne diesen haben potenzielle weitere Ökosystemteilnehmer keine Anreize, Teil des Ökosystems zu werden. Ohne Netzwerk kein Pull. 

Um diesen initialen Kunden- bzw. Userstamm aufzubauen, müssen Unternehmen zunächst ein erfolgreiches Pipeline-Geschäftsmodell mit Produktfokus aufbauen. Dieses Produkt muss Mehrwerte für User und Kunden schaffen, ungeachtet von weiteren Parteien. Dieses Phänomen beschreibt Chris Dixon, Partner bei a16z, als „come for the tool, stay for the network“ Strategie. So waren Kunden von Apple beispielsweise zunächst Kunden von iPods, iPhones und Macintoshs, also digitalen Endgeräten, bevor sie die volle Breite der AppStore-Applikationen (und damit dem Apple-Ökosystem) genießen konnten. 

Voraussetzung 2: Der eigene Kundenstamm muss für potenzielle Ökosystemteilnehmer wertvoll sein

Nur über einen Kundenstamm zu verfügen genügt nicht. Dieser muss attraktiv genug sein, um ihn gegenüber weiteren Ökosystemteilnehmern monetarisieren zu können. Der eigene Kundenstamm muss für weitere Ökosystemteilnehmer also einen Markt darstellen, für den es sich lohnt, Eingeständnisse zu machen, wie z.B. eine Take-Rate des Orchestrators in Kauf zu nehmen. Die Attraktivität dieser Schnittstelle zeichnet sich vor allem durch eine hohe Kundenbindung und häufige Interaktionen, durch das Besetzen einer wertvollen Schnittstelle und durch einen in der Anzahl großen Kundenstamm aus.

Voraussetzung 3: Die Leistungen der Ökosystemteilnehmer müssen bestimmt und abgegrenzt werden

Bevor ein Unternehmen sich entscheidet, sich für Ökosystemteilnehmer zu öffnen, muss es entscheiden, welche Teile seines Geschäftsmodells es öffnet. Dazu muss es den Umfang des eigenen Angebotes definieren, um dieses vom Angebot weiterer Teilnehmer abzugrenzen. Unternehmen müssen sich hierbei drei Fragen stellen: 

  1. Was sind unsere verteidigbaren Stärken?
  2. Welche angrenzenden Services bieten andere Player heute (besser) an als wir?
  3. Welche dieser Services sind für unsere Kunden besonders interessant?

Die verteidigbaren Stärken sollten die selbst zu entwickelnden Dienstleistungen bestimmen, während für alles andere das Geschäftsmodell geöffnet werden sollte. So hat sich im Gaming vor ca. 20 Jahren Atari eingestehen müssen, dass es zwar erfolgreich Spielekonsolen produzieren kann, aber nicht zwingend der beste Spieleentwickler ist. Nintendo, Sony und Microsoft haben entsprechend, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, die Entwicklung von Spielen für ihre Konsolen ihren Ökosystemteilnehmern überlassen. Denn am Ende entscheiden die meisten Spieler zwischen X-Box, Playstation und Co. nicht aufgrund der technischen Ausstattung der Konsole, sondern vor allem auf Basis der (früh) verfügbaren Spiele-Blockbuster.

Voraussetzung 4: Die Einbindung weiterer Ökosystemteilnehmer muss technisch ermöglicht werden

Neben der strategischen Frage, ob das Geschäftsmodell für weitere Teilnehmer geöffnet wird, muss auch das technische „Wie“ beantwortet werden. Dabei können Unternehmen nach dem Vorbild von Apple ihren Ökosystemteilnehmern dedizierte Tools bereitstellen, die die Kompatibilität mit der eigenen Plattform gewährleistet. Alternativ können sie wie Android keine eigenen Tools bereitstellen, dafür aber liberaler in der Zulassung von Software Dritter sein. Die technische Öffnung kann auch durch das Bereitstellen einer API-fähigen Systemlandschaft vollzogen werden, die es Drittanbietern erlaubt, ihre eigenen Services über APIs in die Schnittstelle des Orchestrators einzubetten.

Wie baue ich mein Ökosystem auf, und worauf muss ich dabei achten?

Sobald die oben beschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind, kann ein Ökosystem aufgebaut werden. Die Wachstumsjourney eines Ökosystems hat dabei in der Regel vier Phasen: Pipeline, Ökosystem-Aufbau, Ökosystem-Skalierung, Ökosystem-Evolution. Neben generellen Erfolgsfaktoren bringt jede Phase für das Geschäftsmodell auch dedizierte Pricing- und Monetarisierungsimplikationen mit sich, die wir hier zusätzlich beschreiben wollen.

1. Pipeline

In der Pipeline-Phase liegt der Fokus auf der Erarbeitung der oben beschriebenen Voraussetzungen: ein starkes Kerngeschäft, das einen breiten Kundenstamm generiert, der für potenzielle weitere Ökosystemteilnehmer attraktiv ist. Darüber hinaus muss die technische Anbindung potenzieller Ökosystemteilnehmer, z.B. durch eine API-Landschaft, ermöglicht werden. Für Kunden sollten hierbei monetäre Ansätze zu Loyalität und Skalierung gesetzt werden. Ein adäquates Value-Based Pricing Model kann hierfür den Grundstein legen und entsprechende Zahlungsbereitschaften verschiedener Kundengruppen abbilden.

2. Ökosystem-Aufbau

In der Aufbauphase wird das Geschäftsmodell für weitere Teilnehmer geöffnet. Das Pipeline-Geschäftsmodell wird hierdurch zum Ökosystem. Unternehmen müssen sich die Frage stellen, wie viele weitere Ökosystempartner angeknüpft werden sollen – und an welcher Stelle. Während Android beispielsweise sowohl Hersteller von Endgeräten als auch Entwickler anknüpft, sind es bei Apple nur Entwickler – die Endgeräte werden weiterhin selber produziert. Die Frage, die sich Unternehmen hier stellen müssen, ist die bereits oben diskutierte Frage der Abgrenzung des eigenen Angebots. Nicht nur die Anzahl der Ökosystemteilnehmer ist hierbei wichtig, sondern auch die Auswahl dieser. Beispielsweise hat Apple ein großes Interesse daran, dass Entwickler von besonders beliebten Apps den AppStore nutzen. Stripe hat ein großes Interesse daran, dass besonders häufig genutzte Zahlungsmethoden abgebildet werden. Unternehmen müssen also in der Aufbauphase Partner für ihr Ökosystem gewinnen, die dem eigenen Kundenstamm einen hohen Mehrwert stiften. 

Auch das Monetarisierungsmodell wird durch das Ökosystem neu definiert. In einem Pipeline-Geschäftsmodell bezahlen Kunden dem Softwareanbieter eine Abogebühr. Wenn nun neue Parteien an das entstehende Ökosystem angeknüpft werden, muss neu bewertet werden, wie der Geldfluss zwischen den (mindestens drei) Parteien verläuft und welche Partei wem für entstehende Transaktionen wie bezahlt. Der Orchestrator des Ökosystems beginnt die Pricingstrategie. Er bewertet die entstehenden Mehrwerte der einzelnen Parteien und entwickelt ein Value-Based Pricing Model. In Ökosystemen können dabei verschiedene Arten von Preismodellen (z.B. Listing Fee, Transaktionsgebühren, RevShare-Modelle, Lead-Auktionsmodelle) zusätzlich zu dem originären SaaS-Abomodell entstehen oder (perspektivisch) dieses sogar ersetzen. In jedem Fall sollte das Preismodell die Teilnahme neuer Ökosystempartner sowie deren Skalierung innerhalb des Ökosystems incentivieren.

3. Ökosystem-Skalierung

In der Skalierungsphase muss das Ökosystem wachsen, indem positive Netzwerkeffekte, und damit das sogenannte Flywheel realisiert werden. 

Netzwerkeffekte und das Flywheel bedeuten, dass das Wachstum des Ökosystems eben jenes (auf allen Seiten) weiter beschleunigt. Je stärker eine Seite wächst (z.B. die Anzahl der Anbieter von komplementären Softwareleistungen), desto mehr Wert kann die andere Seite (also hier Softwarenutzer) aus dem Ökosystem ziehen – und vice versa. Unternehmen sollten hier besonders die Anzahl der User, der Partner, sowie die Anzahl der Transaktionen optimieren.

Die Qualität des Angebots darf hierbei jedoch nicht unter dem Wachstum leiden. Orchestratoren sollten immer Feedbackmöglichkeiten in ihr Modell einbauen (z.B. Userbewertungen), um „schwarze Schafe“ kontinuierlich auszusortieren oder zu besserem Service zu incentivieren.

Preistechnisch sollten Ökosystemteilnehmern monetäre Anreize zur intensiven Nutzung des Ökosystems (u.a. durch Belohnungen eines hohen Share of Wallets) geschaffen werden. Durch die Erweiterung des Angebots um neue angrenzende Verticals lässt sich hierdurch sowohl die User- als auch die Partneranzahl weiter erhöhen.

4. Ökosystem-Evolution

Nach einer erfolgreicher Skalierung nimmt das Wachstum langsam ab. Das Ökosystem hat eine signifikante Größe erreicht, der Markt ist bedient. Für das Ökosystem bedeutet das allerdings nicht, dass die langfristige Marktposition gesichert ist. Langfristig müssen Ökosysteme sich kontinuierlich Shifts im Markt anpassen. Neue Kundenbedürfnisse müssen früh bedient werden und Partnerbeziehungen kontinuierlich aufrecht erhalten werden. Um die Kundenbindung weiter zu steigern und somit die Marktposition zu verteidigen, sollte sich das Angebot immer weiter in Richtung One-Stop-Shop, also einem holistischen Angebot für das oder die Zielkundensegment(e) entwickeln. Mit strategischen Lock-In Effekten kann die erreichte Kundenbindung manifestiert werden. Die Zufriedenheit von Kunden und Partnern sollte regelmäßig gemessen werden und stellen die wichtigsten KPIs in dieser Phase dar. Auch die Pricing-Strategie muss kontinuierlich an neue Kunden- und Partnerbedürfnisse angepasst werden und kompetitiv bleiben. Das Schöne dabei ist: Ist das Ökosystem einmal führend im jeweiligen Markt, bietet es dem Orchestrator teilweise extremes Preiserhöhungspotenzial. Gewinnmargen von 60, 70 oder 80 Prozent sind hier keine Seltenheit. Kein Wunder, dass Ökosysteme die Investorenfantasien ankurbeln.

Unser Fazit

Ökosysteme sind keine Erfolgsgeschichten, die über Nacht geschrieben werden, sondern viel eher der (aktuell) letzte Schritt in der Ausgestaltung von skalierbaren Software- und Technologie-Geschäftsmodellen. Sie entfernen ein wichtiges Wachstumshemmnis, die eigene Entwicklungs-Power, indem sie Dritten eine Möglichkeit bieten, die eigene Klientel mit sinnvollen Mehrwertleistungen zu bespielen, ohne in Konkurrenz mit dem Orchestrator des Ökosystems zu treten. Erfolgreiche Ökosysteme-Geschäftsmodelle gehören zu den margenstärksten unserer Zeit.

Vor allem Softwareunternehmen, die nach dem schweißtreibenden Pipeline-Geschäft operieren, sollten sich Gedanken dazu machen, wie sie den nächsten Schritt in der Ausgestaltung ihres Geschäfts zu einem Ökosystem gehen können. Das damit versprochene Flywheel schafft neues Wachstum durch Netzwerkeffekte und wird von Investoren aktuell stark honoriert.

Quellen
Yahoo Finance, Van Alystyne et. al in HBR (2016), Hagiu in MIT Sloan Management Review(2013), Chris Dixon, Stripe

Autor

Dr. Sebastian Voigt

Dr. Sebastian Voigt ist Partner bei hy und verantwortlich für die Pricing and Sales Business Unit. Sebastian studierte Wirtschaftsinformatik und promovierte an der TU Darmstadt zu Monetarisierungsstrategien von digitalen Marktplätzen. Seit über 15 Jahren entwickelt er profitable digitale Geschäftsmodelle. Er arbeitete u.a. als Director bei der Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partners, leitete die Projektteams der Investmentholding von Axel Springer und nahm operative Führungspositionen innerhalb von Bertelsmann und ProSiebenSat1 ein.