Berlin als Startup Hochburg: Ja, aber bitte erwachsen.

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Berlin ist unter den wichtigsten und größten Startup-Ökosystemen weltweit.

In Berlin gibt es zwar weder das Frankfurter Bankenviertel, noch eine Automobillandschaft wie rund um Stuttgart. Dafür gibt es hier mehr als 4.000 Startups, finanziert mit über 3 Milliarden Euro Wagniskapital im Jahr 2020. Die Ursprünge gehen auf den Boom am Neuen Markt Anfang der 2000er Jahre zurück. Diese Aufbruchszeit ist eng mit den drei Samwer-Brüdern verbunden. Zusammen mit Branchengrößen wie Lukasz Gadowski und Christian Vollmann investierten Alexander, Marc und Oliver Samwer in studiVZ und nutzten das beim Exit in 2006 freigewordene Kapital, um Investmentvehikel wie den European Founders Fund mit Kapital auszustatten. Das Berliner, das deutsche Startup-Ökosystem war geboren. Die Samwers erkannten Trends und kopierten sie. Getreu dem Motto „Nicht die Idee, einzig die Umsetzung zählt“. Treffend zusammengefasst hat es Comedian Harry G in seiner rund zweiminütigen Parodie „Startup Gschaftler“ aus dem Jahr 2015 mit dem Satz „Ich gründe so etwas wie Zalando, nur für Zierfische“. Bis heute haftet Berlin der Makel der Copycats an. Berlin kann nichts außer E-Commerce ist zu hören. Zu Unrecht, wie die folgenden Beispiele zeigen.

Milliarden Startups im Mobilitätssektor treffen auf einen Provinzflughafen

Er kommt. Irgendwann. Jahrelang drehte sich die öffentliche Diskussion im Kontext von Mobilität in Berlin ausschließlich um den Berliner Flughafen. Jahrelang wurden Witze gemacht. 2018 musste Lufthansa öffentlich zurückrudern, als der damalige Vorstand Thorsten Dirks einen Abriss und Neubau des Flughafens ins Spiel brachte. Das Absurde: Der Artikel in der FAZ hätte auch im Postillon erscheinen können. Keiner wusste mehr, was Satire und was traurige Realität ist. Im Schatten dieser Peinlichkeiten zeigten andere Menschen, wie man Mobilität neu denkt. Zwei Jahre nach Baubeginn des Berliner Flughafens entwickelten Johannes Reck und Tao Tao in ihrer Studenten-WG eine Plattform, um die besten Reiseaktivitäten der ganzen Welt zu versammeln. Aus dieser kühnen Idee wurde die Firma GetYourGuide. Zehn Jahre später hatte der BER noch nicht eröffnet, aber Johannes und Tao beschäftigen mehrere Hundert Mitarbeiter und führen ein Unternehmen mit Büros unter anderem in Berlin, London und Miami und haben einen Unternehmenswert von deutlich über einer Milliarde Euro geschaffen. Aber Johannes und Tao sind nicht die einzigen erfolgreichen Gründer im Mobilitätskontext in Berlin. Zu den mehr als 50 Berliner Startups im Bereich Mobilität zählen Unternehmen wie der Elektroscooter Betreiber TIER, Carsharing-Anbieter wie Miles, das aufs autonome Taxifahren spezialisierte Vay, der Technologie-Anbieter door2door oder das von Lufthansa und Porsche betriebene Miles & More der Mobilität, Rydes. Berlin muss hier in Zukunft viel konsequenter Vollgas geben. Die BVG-Kampagne „weil wir Dich lieben“ drückt emotional bereits aus, worum es geht: Voller Fokus auf den Bürger. Barrierefrei, nahtlos, über alle Verkehrsträger hinweg. Berlin hat das Potential, einen weltweit führenden Mikrokosmos vernetzter Mobilität anzubieten. Dazu müssen alle Beteiligten miteinander und nicht gegeneinander agieren und den Bürger ins Zentrum all ihrer Überlegungen stellen. 

Die Mammutaufgabe: Die Digitalisierung des Staates

Es ist peinlich, wenn bei der Bundestagswahl 2021 in Berlin ein Wahlzettelchaos entsteht, während wir längst die Technologie für sichere, digitale Wahlen haben. Länder wie Estland machen uns vor, wie moderne Wahlen funktionieren und ein digitaler, schlanker und handlungsfähiger Staat aussehen kann. In dem baltischen Nachbarland werden nach Angaben der Regierung 99 Prozent aller Behördengänge digital angeboten. Das Erfolgsgeheimnis: die estnische Bürgerkarte, die Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte, Bibliotheksausweis etc. miteinander vereint. Im Jahr 2019 wurden 98 Prozent aller neuen Unternehmen in Estland digital registriert und angemeldet – mit einem durchschnittlichen Zeitaufwand von 18 Minuten. In Deutschland dauert das heute noch rund acht Tage. Kein Wunder, dass Estland im GovTech Maturity Index, einer Benchmark zum Messen der digitalen Entwicklung von nationalen Regierungen, regelmäßig Spitzenpositionen einnimmt. Aber auch hier gibt es Hoffnung. Wieder sitzen die Hoffnungsträger direkt in Berlin. Lars Zimmermann ist Initiator des GovTech-Gipfel in Deutschland, Vorstand des weltweit ersten GovTech Campus und hat mit Public die Wagniskapitalfirma für GovTech in Deutschland aufgebaut. Man darf wohl davon ausgehen, dass er durch seine eigene politische Laufbahn innerhalb der CDU genügend weitreichende Kontakte hat, um das politische Deutschland mit seinen Ideen eines digitalisierten Staatswesens zu begeistern. Ebenfalls in Berlin lebt und wirkt Manuel Kilian, Gründer und CEO GovMind, einem Unternehmen, das Behörden hilft, innovative Startup-Lösungen zu identifizieren, um damit die eigenen Aufgaben besser, schneller und kundenfreundlicher umzusetzen. „Procurement for Good“ titelte das Handelsblatt in seiner Geschichte über Manuel. Der „Einkauf zum Wohle des Guten“.

Politisch, nachhaltig, nach vorn gerichtet: Wenn nicht jetzt, wann dann

Seit 2019 arbeiten in Berlin zahlreiche Startups am Jahrhundertthema Klimawandel, allen voran Plan A, Planetly oder  Climatiq.io Da ist es nur konsequent, dass vor zwei Wochen in Berlin Europas größter Climate Tech Fund ins Leben gerufen wurde. 350 Millionen Euro stehen für Startups zur Verfügung, die mit ihrer Arbeit jährlich Treibhausgasemissionen um mindestens 100 Megatonnen CO2-Äquivalent reduzieren. Das Berliner Startup Ökosystem scheut auch keine sogenannten DeepTech-Themen, also Geschäftsmodelle im Umfeld sehr komplexer Technologien, allen voran Blockchain-Anwendungen. Der Berliner Senat fördert den Verein BerChain, um die Bundeshauptstadt zur Krypto-Metropole aufzubauen –  aktuell gibt es hier bereits über 130 Blockchain Startups. Auch regulierte Branchen wie das Banken- und Versicherungswesen werden von N26 und Finleap erfolgreich umgekrempelt. 

In der öffentlichen Wahrnehmung dürfen Startups daher nicht mehr als „hippes Hirngespinst“ aus Berlin angesehen werden, sondern als elementarer Bestandteil der deutschen Wirtschaft und vielleicht größter Treiber der Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Bereits heute sind in Deutschland Hunderttausende Menschen in Startups beschäftigt, inzwischen haben es Zalando, Delivery Hero und HelloFresh in den Dax geschafft– und das war erst der Anfang. Und ja, es ist schön, wenn auch Hamburg, München und das Rheinland ihre eigenen Startup-Ökosysteme entwickeln. Das tut unserer Startup-Landschaft gut. Doch nur Berlin hat die Chance, den ganz großen Wurf zu landen, einen von globaler Bedeutung. Also: Schluss mit „Arm, aber sexy“! Es ist so falsch den interessanten, aber vermeintlich chancenlosen David zu spielen. Berlin hat das Zeug zum Goliath. Berlin, Du bist so wunderbar! #Aufbruch #Mut #NeuesWagen #Berlin

Autor

Sebastian Herzog

Sebastian Herzog ist Co-CEO bei hy und verantwortet die Business Units „Innovation and Ventures“ und „Web3 and Metaverse“. Bevor Sebastian zu hy kam, gründete und leitete er den Lufthansa Innovation Hub als eigenständige GmbH in Berlin – eine vielfach ausgezeichnete Corporate Innovation Unit. In seinen insgesamt 12 Jahren bei der Deutschen Lufthansa war Sebastian zuvor in der Markt- und Flottenstrategie sowie als strategischer Assistent des Vorstandsvorsitzenden tätig. Sebastian ist zudem Gründer eines Ecommerce Startups und eines Krypto-Index und vereint Corporate-Erfahrung mit Startup-Spirit. Darüber hinaus ist er Redner und Panelist bei führenden Veranstaltungen zu den Themen Transformation und Innovation.