Schluss mit Streichelzoo – 8 Tipps aus der Praxis für die Zusammenarbeit von Industrie und Start-ups

04.07.2022 – Ein Beitrag von Marie-Luise Klose

Die Beziehung zwischen aufstrebenden, wachstumsstarken Start-ups und der Industrie hat sich in Deutschland in den letzten Jahren gewandelt. Die Euphorie der neuen Möglichkeiten ist einem nüchternen Blick gewichen: Viele Unternehmen haben die Erfahrung gemacht, dass eben nicht alles, was neu ist, auch besser sein muss – und nicht alles, was intern in puncto Digitalisierung nicht funktioniert, sich durch die Zusammenarbeit mit Start-ups fixen lässt. Und dennoch: Gerade B2B Start-ups sind Wachstumstreiber in Deutschland und die Chance für die Zusammenarbeit mit der Industrie ist groß. Sie will nur gut gemanagt werden.

Wie alles begann: Der Hype ums Silicon Valley

Wir erinnern uns noch gut an die erste Welle der Silicon Valley Reisen. Ganze Vorstände pilgerten nach Kalifornien, um sich dort Inspiration zu holen: Eine gute und richtige Entscheidung. Axel Springer schickte den damaligen Chefredakteur der Bild-Zeitung Kai Diekmann 2012 für ein halbes Jahr ins Tal der Gründer. Man vergegenwärtige sich: Das ist inzwischen zehn Jahre her. Besuche folgten vom “Who is Who”: Vorstände der Telekom, Deutschen Bahn, Bosch, Otto und der Automobilkonzerne (um nur eine kleine Auswahl zu nennen) gaben sich die Klinke in die Hand – der ehemalige Wirtschaftsminister Philipp Rösler und der Ministerpräsident von Niedersachsen Stephan Weil waren vor Ort. Letzterer kam 2016 nicht zuletzt, um in seiner Rolle als Aufsichtsrat von VW neue Ideen für die Transformation des Unternehmens zu sammeln. 

Eine Studie von BCG aus dem Jahr 2018 zeigt, wie die gesammelten Eindrücke in deutschen Konzernen sich in jener Zeit im Aufbau von Innovationsvehikeln unterschiedlicher Art spiegelten: Labs, Accelerators und Risikokapitalarme schossen förmlich aus dem Boden.

Start-ups verhießen eine schnelle Veränderung, das “Sich-Mitreißen-Lassen” vom Wandel begeisterte. Gründer*innen suchten in nahezu jeder Wachstumsphase die Nähe zur Industrie. Doch das Manager Magazin konstatierte bereits 2015: Ganz so einfach ist es eben nicht.

Das Ende der rosaroten Brille

Tatsächlich stellte sich das Ziel, sich selbst zu disruptieren und neue Geschäftsmodelle aufzubauen, in der Heimat deutlich schwieriger dar. Die Begeisterung für Innovation und spannende Technologieprodukte blieb ohne Frage, aber auch die Erkenntnis, dass die Implementierung in bestehende Strukturen selten einfach ist, machte sich breit. 

In einer quantitativen Befragung von Konzernen und Start-ups durch BCG kam 2018 heraus, dass 45 Prozent der Konzerne und 55 Prozent der Start-ups “etwas bis sehr unzufrieden” mit der Zusammenarbeit seien. Ein ähnliches Bild zeichnete sich dabei im Mittelstand. Dort ermittelte Deloitte zur gleichen Zeit, dass 46 Prozent der befragten Start-ups “eher bis sehr unzufrieden” mit der Zusammenarbeit seien. Eine Asymmetrie, denn die Mehrheit der Befragten auf beiden Seiten bewertete die Kooperation als “eher bis sehr relevant” für das eigene Geschäft. Zu den am häufigsten genannten Gründen für den Misserfolg zählten Interessenkonflikte, unklare Zielsetzungen und fehlendes Engagement. Jeder kennt wohl Geschichten von genervten Gründer*innen, die sich in der Komplexität von Unternehmensstrukturen verlaufen und verzweifelten Konzernmanager*innen, die an Anglizismen und Duz-Kultur scheitern.

Dabei können gerade in Europa B2B Start-ups die Industrie bereichern

McKinsey analysierte 2021: Investitionen in B2B Start-ups lohnen sich deutlich mehr in Europa als in den USA, wo sie im Vergleich das 2,4-fache des Umsatzes pro investierten Dollar einbringen. Investitionen in diesem Bereich sind in Europa in den letzten fünf Jahren um 123 Prozent gestiegen. Denn der Druck auf Unternehmen, sich stärker im Bereich Digitalisierung zu verändern und neben Produkt- vor allem auch Prozessinnovationen zu integrieren, verstärkt sich in Zeiten von Krise und Unsicherheit zusätzlich und treibt B2B Produkte voran. KPMG etwa konstatiert: “Die Corona Pandemie hat den Digitalisierungsdruck erhöht” und sieht darin eine historische Chance.

Investoren haben diese Entwicklung seit einiger Zeit erkannt und stecken mehr Kapital in B2B Produkte. Diese sind zwar oft anspruchsvoller in der Skalierung, da klassische Growth Ansätze aus der B2C Welt sich in der Regel nicht übertragen lassen und erfordern eine geschickte Vertriebsstrategie an weniger, aber dafür langfristig interessierte und zahlungsbereite Kunden. Ein langer Atem im Sales-Prozess und ein erfahrenes Team sind entscheidend für das Wachstum.

Wie geht es also erfolgreich?

Wir haben in unterschiedlichen Projekten eine Vielzahl an Kunden dabei begleitet, Wachstum durch externe Innovationen zu ermöglichen. Viele Stolpersteine lassen sich mit einem klugen Projekt Set-up, aber nicht zuletzt mit viel Empathie und Engagement aus dem Weg räumen. Unsere wichtigsten Tipps haben wir hier zusammengefasst:

1. Ressourcen transparent machen

Die zur Verfügung stehenden Ressourcen, insbesondere in Hinblick auf Personal, unterscheiden sich in der Regel drastisch. Konzernmanager*innen sollten sich vergegenwärtigen, dass oft ein sehr kleines Team am Wachstum des Start-ups arbeitet und viele Bälle parallel in der Luft halten muss. Entsprechend hilfreich ist es, die Zeit der Mitarbeiter*innen wo möglich von administrativen Tätigkeiten zu verschonen. In die andere Richtung gilt: Der Eindruck endloser Ressourcen in einem Industrieunternehmen ist gänzlich falsch. Komplexe Verrechnungs- und Auftragsschlüssel sowie politische Entscheidungsprozesse benötigen oft viel Fingerspitzengefühl und Stakeholdermanagement, um benötigte Mittel oder Personen freizuschaufeln. Eine aufrichtige Kommunikation ist hier entscheidend.

2. Arbeitsebene befähigen

Buy-in von Top Management und Entscheider*innen ist kritisch für jeden Projekterfolg – ganz gleich ob im Innovationskontext oder einem anderen Feld. Folgender Prozess ist häufig die Regel: Die Geschäftsführung bzw. der Vorstand eines Unternehmens unterstützt die Zusammenarbeit mit oder die Beteiligung an einem Start-up. Das Projekt landet anschließend auf dem Tisch eines Mitarbeitenden aus einem operativen Bereich, wo es nicht selten zusätzliche Arbeit verursacht. Von Sprachproblemen, unterschiedlicher Arbeitskultur bis hin zu fehlenden Kenntnissen und Motivation ist hier ein Bottleneck, das kritisch für die Zusammenarbeit ist. Eine erfolgreiche Partnerschaft setzt die Befähigung und Incentivierung aller Beteiligten voraus – hierarchieübergreifend.

3. Dschungel gemeinsam durchkämpfen

Die richtigen Ansprechpartner*innen zu identifizieren ist für Konzernakteure eine herausfordernde Aufgabe. Nicht selten ist die Stakeholderlandschaft ein anspruchsvolles Umfeld mit vielen Partikularinteressen und -sorgen. Kaum ein Start-up wird hier sicher navigieren, ohne dabei sich zu verlaufen oder gar internes Chaos anzurichten. Es braucht unbedingt auf beiden Seiten einen Single Point of Contact, der oder die sämtliche Kommunikation steuert und zentral koordiniert. Auch hier gilt: Verständnis für Bedarfe und Komplexität durch eine Vertrauensperson vereinfacht viele Arbeitsschritte.

4. Fehlerkultur übereinanderlegen

Iteratives Arbeiten und eine gesunde Beziehung zu Fehlern sind in der Digitalszene selbstverständlich. In Fuck-Up Nights wird besprochen, was nicht gut lief und wie daraus gelernt werden kann. Deutschen Industrieunternehmen wird eher eine zu risikoaverse Haltung attestiert, die Fehlervermeidung als wichtiger als das Ergreifen von Chancen bewertet. Es ist essentiell zu verstehen, dass insbesondere in der Industrie eine “Null-Fehler-Attitüde” für viele Produkte wertvoll und nicht verhandelbar ist. Sei es aus Sicherheitsgründen oder aus dem Wertversprechen “Made in Germany” heraus. Start-ups, die im industriellen Umfeld für diese Haltung kein Verständnis und kein nötiges Wissen aufbringen, wie sich dennoch Pilotprojekte umsetzen lassen, haben es schwer.

5. Skalierung realistisch betrachten

Projekte zwischen Start-up und Industrieunternehmen brauchen häufig länger bis zum Abschluss als sich initial abzeichnet. Insbesondere durch interne Abstimmungen, Gremienarbeit und häufig langfristig angelegte Budgetplanungen können selbst kleine Pilotprojekte mitunter nur in kleinen Schritten vorankommen. Es braucht für beide Seiten eine klare Perspektive, vor allem für den Blick auf die Zeit danach. Gutachten, Zertifizierungen, weitere Gremiensitzungen und nicht zuletzt Ausschreibungspflichten des Vergaberechts können es Start-ups schwer machen, über Pilotprojekte hinaus ihre Produkte ökonomisch sinnvoll zu vertreiben. Ein klarer Rahmen und eine enge Abstimmung über die Ziele sind hier entscheidend: Nicht immer ist Umsatz der entscheidende Faktor. Mitunter ist es auch gemeinsames Marketing, Netzwerkeffekte oder steigende Kredibilität.

6. Produktreife ehrlich beschreiben

Erwartungsmanagement ist das A und O einer erfolgreichen Zusammenarbeit – soweit nichts Neues. Die schnelle und kundenzentrierte Entwicklung von Prototypen und MVPs ist ein entscheidender Vorteil von Start-ups, die sich so rasch an neue Marktdynamiken anpassen können. Wir erleben jedoch an dieser Stelle nicht selten einen Konflikt. Konzernmanager*innen sind nicht selten enttäuscht, wenn sie ein vermeintlich fertiges Produkt erwarten und feststellen, dass sie einen Prototypen testen. In die andere Richtung verleitet der Wunsch nach schnellem Fortschritt und gewiss auch Leidenschaft für das Thema Digitalisierung Mitarbeitende aus der Industrie dazu, den Start-ups einen schnellen und unkomplizierten Prozess zu skizzieren, den es so nicht gibt. Wenn beide Seiten wissen, was sie erwartet und welchen Qualitätsanspruch sie erfüllen müssen, läuft die Partnerschaft hier besser.

7. Prüfstand als Chance sehen

Die Zusammenarbeit mit Start-ups im B2B Kontext ermöglicht es der Industrie kritisch eigene Prozesse, Tools und Ideen auf den Prüfstand zu stellen – weit über den eigentlichen Projektscope hinaus – eine Art digitaler Due Diligence. Haben meine Mitarbeitenden das notwendige Wissen und die richtigen Werkzeuge zur Hand? Sind meine Prozesse so aufgestellt, dass ich die Möglichkeit habe Innovation zu integrieren? Welche IT-Anwendungen nutzt das Start-up und sind diese für mich auch interessant? Gleiches gilt – wie immer – in die andere Richtung: Insbesondere junge Unternehmen, die sich noch stark professionalisieren, können hier wertvolle Einblicke sammeln und bestimmte Prozesse und Strukturen adaptieren.

8. Schluss mit Streichelzoo

Wenig fürchten Gründer*innen so sehr, wie den “Corporate Streichelzoo” – ein Konstrukt entstanden in der oben beschriebenen ersten Welle der Silicon Valley Reisen. Hier werden Start-ups angeschaut, vorgeführt, gestreichelt und auch gerne mal auf ein Foto gelassen, aber wirklicher Mehrwert entsteht für keine der beiden Seiten. Diese Art der Zusammenarbeit frisst Ressourcen, frustriert, hat keine klare Perspektive und trägt auch zu keiner internen Transformation bei. Deswegen unser Plädoyer: Eine Zusammenarbeit muss eine echte Partnerschaft sein, die messbaren Mehrwert für alle schafft.

Autorin

Marie-Luise Heitmann (geb. Klose)

Marie ist Expertin für Corporate Innovation und arbeitet als Vice President vorwiegend mit unseren B2B Kunden an der Entwicklung, Validierung und Kommerzialisierung von digitalen Geschäftsmodellen. Sie bringt umfassende Erfahrung aus Digitalindustrie, Konzern und als Gründerin mit: Vor ihrer Zeit bei hy baute sie den Risikokapitalarm der Deutschen Bahn mit auf und war dort für die operative Zusammenarbeit der DB mit Start-ups verantwortlich. Darüber hinaus gründete sie ein eigenes Unternehmen Talentlabor im Bereich Weiterbildung, das sich auf die maßgeschneiderte Vermittlung methodischer Kompetenzen aus der Start-up Industrie konzentriert. Ihre Sporen verdiente Marie sich bei Rocket Internet, wo sie als Teil des Growth Teams eine Vielzahl von Start-ups weltweit bei Launch und Skalierung begleitete sowie den Aufbau der auf digitale Markenbildung spezialisierten Agentur RCKT mit gestaltete. Marie ist studierte Politikwissenschaftlerin.