Aus dem Schatten ins Rampenlicht: Cross-Selling neu gedacht

Unternehmen sollten Cross-Selling zum Teil der Unternehmens-DNA machen und nicht gegen Neukundenakquise ausspielen

In den letzten Jahren habe ich als Projektleiter oder Partner an einem Dutzend Projekten gearbeitet, die das Ziel hatten, das Cross-Selling meiner Klienten zu verbessern. In elf von zwölf Fällen gab es dabei ein ähnliches Muster: Die Zusammenarbeit begann, weil die Führungsebene auf eine Analyse stieß, die zeigte, dass das eigene Unternehmen im Vergleich zur Konkurrenz beim Cross-Selling unterdurchschnittlich abschneidet. Gleichzeitig wies die Analyse auf ein erhebliches Potenzial hin, das mit den richtigen Maßnahmen gehoben werden könnte. Prompt landete Cross-Selling auf der Agenda – und Verbesserungen wurden gefordert.

In allen zwölf Projekten konnten wir für die Klienten hervorragende Ergebnisse erzielen: Die durchschnittliche Klientenzufriedenheit lag bei 9,5 von 10 Punkten, Cross-Selling-Raten haben sich bis zu 120 % verbessert, die Projektkosten waren nach einem Quartal amortisiert.

Eine Erkenntnis sticht dabei besonders hervor: Cross-Selling funktioniert und verbessert sich nur, wenn es aktiv betrieben wird. Wer es dem Zufall oder einer reaktiven Haltung überlässt, wird keine Verbesserung sehen. Welche Schritte Unternehmen gehen können, um Cross-Selling erfolgreich zu gestalten, erläutere ich in diesem Text. Doch zunächst ein kleiner Blick zurück.

Woher kommt Cross-Selling?

Die Ursprünge des Cross-Sellings reichen weit zurück, doch in den 1950er und 1960er Jahren gewann es besonders in der Banken- und Versicherungsbranche an Bedeutung. Unternehmen erkannten, dass bestehende Kunden eher bereit waren, zusätzliche Produkte wie Kredite, Sparkonten oder Zusatzversicherungen abzuschließen, wenn eine vertrauensvolle Beziehung bereits bestand. Diese Erkenntnisse fanden damals zunehmend Einzug in akademische Marketing-Journale.

Allerdings reicht die Idee hinter Cross-Selling noch weiter zurück. Begriffe wie „Suggestive Selling“ oder „Complementary Selling“ wurden bereits in den 1920er Jahren verwendet. Ein Vorläufer der modernen Praxis war Frank Woolworth, der 1879 mit seinen ersten „Five-and-Dime“-Geschäften in Pennsylvania und New York Maßstäbe setzte. Seine Strategie war simpel, aber effektiv: Komplementäre Produkte – wie Nadel und Faden – wurden gezielt nebeneinander platziert, um den Verkauf zu fördern.

Die Vorteile von Cross-Selling

Wie bei Woolworth im 19. Jahrhundert, als auch heute sind die Vorteile von Cross-Selling zahlreich wie überzeugend – und sie wirken auf mehreren Ebenen:

Erhöhte Kundenbindung: Kunden, die mehrere Produkte eines Unternehmens nutzen, haben in der Regel höhere Wechselkosten. Das schafft eine stärkere Bindung und fördert die Loyalität. Wer etwa neben einem Girokonto auch ein Sparkonto und eine Kreditkarte bei derselben Bank hat, wird den Anbieterwechsel deutlich sorgfältiger abwägen.

Verbesserte Kosteneffizienz: Es ist deutlich günstiger, an bestehende Kunden zu verkaufen, als neue Kunden zu gewinnen. Mit Cross-Selling lässt sich der Umsatz pro Kunde steigern, ohne dass aufwändige und immer teurere Akquisitionsmaßnahmen erforderlich sind.

Tiefere Kundenkenntnisse: Jedes zusätzliche Produkt, das ein Kunde erwirbt, liefert wertvolle Daten. Diese Informationen eröffnen neue Einblicke in die Vorlieben und das Verhalten der Kunden und ermöglichen es Unternehmen, ihre Angebote noch passgenauer zu gestalten.

Steigerung des Kundenwerts: Kunden, die mehrere Produkte eines Unternehmens nutzen, bleiben häufig über einen längeren Zeitraum verbunden. Dies führt zu einem höheren Customer Lifetime Value.

Wettbewerbsvorteil: Eine breitere Produktbeziehung schafft nicht nur Bindung, sondern auch Barrieren für Wettbewerber. Kunden, die umfassend in eine Produktwelt eingebunden sind, werden seltener versucht sein, zu einem anderen Anbieter zu wechseln.

Was gute Cross-Seller besser machen

Wie geht es nun mit dem aktiven Betreiben von Cross-Selling? Was gilt es zu tun? Natürlich gibt es viele unternehmens- und branchenspezifische Unterschiede bei der Beantwortung dieser Fragen – etwa, ob der Verkauf online oder offline erfolgt, ob wir im B2B-, B2C- oder B2B2x-Bereich tätig sind, oder wie groß die Produktpalette ist. Dennoch lassen sich einige übergreifende Erfolgsfaktoren identifizieren, die herausragende Cross-Seller gemeinsam haben:
Sie reden vom selben: Es mag banal klingen, doch eine einheitliche Definition von Cross-Selling im Unternehmen ist Basisvoraussetzung, um erfolgreich zu sein. Aus meiner Erfahrung scheitern über 60 % der Unternehmen bereits hier. Ein Beispiel verdeutlicht das Problem: In einem Projekt gaben neun Interviewpartner auf die Frage „Wie definieren Sie Cross-Selling in Ihrem Unternehmen?“ vier unterschiedliche Antworten.

Jede war für sich genommen nicht falsch, doch dass sie parallel im Unternehmen existieren, ist ein Problem. Erst mit einer klaren, unternehmensweiten Definition wurde eine gemeinsame Grundlage geschaffen – der Ausgangspunkt für jede erfolgreiche Cross-Selling-Strategie.

Sie setzen Ziele und schaffen Verantwortlichkeiten: Erfolgreiche Cross-Seller setzen klare Ziele und schaffen eindeutige Verantwortlichkeiten. Sie definieren quantitative Cross-Selling-Ziele, die regelmäßig getrackt und berichtet werden. Zudem ist das Thema in einem klar benannten Verantwortungsbereich verankert, meist mit einer spezifischen Ansprechperson.

In weniger erfolgreichen Unternehmen fehlt diese Struktur oft: Cross-Selling wird dort selten priorisiert, Zahlen werden nur sporadisch erhoben, und niemand fühlt sich wirklich zuständig. Häufig gibt es Diskussionen darüber, ob die Verantwortung besser im Vertrieb oder im Produktmanagement liegen sollte. Entscheidend ist jedoch nicht der genaue Ort, sondern dass die Verantwortung klar geregelt ist.

Sie haben ihre Interaktionslandkarte gezeichnet: Cross-Selling lebt von den richtigen Gelegenheiten – sowohl aus Unternehmens- als auch aus Kundenperspektive. Diese Gelegenheiten entstehen durch Interaktionen zwischen Unternehmen und Kunden. Solche Interaktionen können entweder vom Unternehmen oder vom Kunden initiiert werden: Beispielsweise versendet das Unternehmen eine Willkommensnachricht, passt Preise an, bewirbt die Kunden-App oder macht ein personalisiertes Angebot. Der Kunde wiederum kann eine Frage stellen, eine Adressänderung mitteilen, eine Reklamation einreichen oder Feedback geben.

All diese Interaktionen laufen über verschiedene Kanäle wie E-Mail, App, Callcenter, Brief, Videocall oder die Unternehmenswebsite. Jeder dieser Berührungspunkte bietet Potenzial für Cross-Selling. Der erste Schritt ist daher, eine sogenannte Interaktionslandkarte zu erstellen: Über welche Kanäle und zu welchen Themen treten wir mit unseren Kunden in Kontakt? Wo und wie nutzen wir diese Interaktionen bereits für Cross-Selling? Wo sind Chancen ungenutzt?

Ein Beispiel verdeutlicht, wie wertvoll solche Gelegenheiten sein können: Positive Serviceerlebnisse werden oft unterschätzt und nicht als Verkaufschancen genutzt – eine klare verpasste Möglichkeit. Ich nenne das Konzept Service-2-Sales. Angenommen, ein Kunde kontaktiert das Callcenter wegen eines Problems bei einer Mietwagenbuchung. Das Problem wird schnell und zufriedenstellend gelöst. Genau hier liegt der Moment, ein gezieltes Angebot zu machen: „Ich sehe, Sie haben noch keine Vollkaskoversicherung eingeschlossen. Ich empfehle Ihnen diese – so können Sie Ihren Urlaub entspannter genießen. Bei einem Schadensfall zahlen Sie keinen Cent. Und wenn Sie jetzt buchen, sparen Sie 34 % im Vergleich zu den Flughafenpreisen.“

Das Ergebnis: 24 % der Kunden nahmen das Angebot an. Das zeigt: Gute Gelegenheit macht Cross-Selling – ganz wie bei Woolworth’s Nadel und Faden.

Sie nutzen Daten – aber nicht als Conditio sine qua non:

Datengetriebene Entscheidungen sind im Cross-Selling wichtig. Die Fähigkeit, anhand von Daten zu erkennen, was funktioniert und was noch besser funktionieren könnte, ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Doch in den seltensten Fällen liegen die Daten so schön parat, die Ausgangslage ist meistens weniger gut. Häufig wird dann geschlussfolgert, Cross-Selling gar nicht erst anzupacken, „Wir haben keine Daten“ heißt es als Begründung. Dies ist mit Abstand die schlechteste Schlussfolgerung. Im Vertrieb gilt: Es ist immer besser, mit gesundem Menschenverstand und bewährten Praktiken zu beginnen, als komplett untätig zu bleiben. Am Beispiel einer Mietwagenvermietung lässt sich dies eindrucksvoll demonstrieren: Ohne jegliche Aktivität wäre die Erfolgsrate 0 %. Durch einen ersten, durchdachten Ansatz ließ sich bereits eine Erfolgsquote von 24 % erzielen.

Darauf lässt sich dann weiter aufbauen. Weitere Produkte können getestet werden, verschiedene Argumentationen, Rabatthöhen oder andere Goodies. Im Mietwagen-Beispiel bedeutete dies, neben der Vollkaskoversicherung z.B. eine Auslandskrankenversicherung, eine Priority Mitgliedschaft oder eine Upselling-Option auf ein größeres Fahrzeug zu testen.

So entsteht schnell ein lernendes System, das das erfolgversprechendste Offering mit den wirksamsten Argumenten für einen spezifischen Kunden auswählt. Durch gezieltes Testen verschiedener Ansätze, Argumente und Rabattstufen können Unternehmen ihre Erfolgsquote stetig steigern. Von initial 24 % verbesserte sich die Quote im genannten Beispiel auf 34 % – das bedeutet, jeder dritte Kunde nahm das Cross-Selling-Angebot an.
Diese Herangehensweise kombiniert Pragmatismus mit systematischem Lernen: Beginnen, beobachten, anpassen und verbessern. So verwandelt sich eine anfänglich löchrige Datenbasis in eine solide Grundlage für immer bessere Vertriebsentscheidungen.

Sie spielen Neugeschäft und Cross-Selling nicht gegeneinander aus: Cross-Selling bietet den Vorteil, mit geringerem Aufwand Umsatz zu generieren als die Neukundenakquisition. Dennoch liegt der Fokus vieler Unternehmen traditionell auf der Gewinnung neuer Kunden. Die Ressourcen für Neukundenakquise und Bestandskundenbetreuung sind naturgemäß begrenzt, doch es existiert ein entscheidender Verbindungspunkt: der erste Kundenkauf.

Genau dieser Moment birgt enorme Potenziale für Cross-Selling. Wenn ein potenzieller Neukunde beim ersten Einkauf nicht nur ein, sondern zwei Produkte erwirbt, reduziert dies die zukünftigen Cross-Selling-Herausforderungen erheblich. Diese Chance wird aktuell jedoch viel zu selten genutzt.

In Online-Kanälen werden Zusatzprodukte zwar oft angeboten, aber meist unzureichend in den Kaufprozess integriert und ohne überzeugende Wertargumentation. Im Offline-Vertrieb sind Berater häufig zufrieden, wenn sie ein Produkt verkaufen, und scheuen das Risiko, durch ein Zweitproduktangebot den Erstverkauf zu gefährden.

Die Fakten sprechen jedoch eine andere Sprache: In einem Projekt mit knapp 2.000 Fällen zeigten sich überraschende Ergebnisse. Nur 2 % der Kunden kauften am Ende nichts, obwohl sie ursprünglich ein Produkt im Blick hatten. 21 % erwarben sogar ein zweites Produkt, während 77 % beim Erstprodukt blieben. Dabei stieg der Umsatz um mehr als 8 %.

Der erste Kundenkontakt ist entscheidend und sollte als strategische Verkaufschance begriffen werden. Danach sind besonders die ersten acht Tage nach dem Erstkauf entscheidend: In dieser Phase ist die Aufmerksamkeit der Kunden für Angebote des Anbieters am höchsten. Anschließend nimmt das Interesse ab, und Cross-Selling wird zusehends schwieriger.

Fazit: Cross-Selling als Teil der Unternehmens-DNA

Cross-Selling hat sich von einer Verkaufstaktik zu einer strategischen Kernkompetenz entwickelt. Der Erfolg liegt nicht in großen Systemen oder perfekten Datenbeständen, sondern in der konsequenten, unternehmerischen Haltung.

Unternehmen müssen Cross-Selling als Teil ihrer DNA begreifen. Dies bedeutet:

  • Klare, unternehmensweite Definition entwickeln
  • Verantwortlichkeiten eindeutig regeln
  • Jeden Kundenkontakt als Verkaufschance begreifen
  • Pragmatisch beginnen und kontinuierlich lernen
  • Neukundenakquise und Cross-Selling nicht gegeneinander ausspielen

Der Schlüssel liegt in der Perspektive: Cross-Selling ist keine Verkaufstaktik, sondern eine Haltung der Kundenorientierung. Es geht darum, dem Kunden genuine Mehrwerte zu bieten, die passen.

Unternehmen, die Cross-Selling richtig verstehen, strategisch und operativ umsetzen, werden höheres Wachstum zu niedrigeren Kosten erzielen.
Author

Frank Gehrig

Frank Gehrig ist Partner in der Pricing and Sales Business Unit bei hy. Zuvor war Frank Partner bei Simon-Kucher mit Fokus auf Versicherungen, Financial Services, Software und x2x Plattformgeschäft.Frank hat 15 Jahre Beratungserfahrung und in dieser Zeit C-Levels in über 20+ Ländern und 50+ Unternehmen zu Commercial Excellence und Innovation beraten.In seinen strategischen und operativen Projekten unterstützte er seine Klienten ihre Wachstums-, Sales-, Pricing- und Transformationsziele zu definieren und zu erreichen.Frank publizierte zahlreiche Artikel und White Papers zu Commercial Excellence, Kundenverhalten und Digitalisierung.Frank studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg und der EM Strasbourg Business School, Frankreich.