Der Traum von der eigenen Abschaffung
Wie Unternehmen lernen können, ihre Existenz zu sichern, indem sie sie in Frage stellen
Frage: „Was ist eine Ineffizienz”? Antwort: „Jeder Aufwand, der mit technischen Mitteln verhindert werden könnte.” Dieser kleine Dialog müsste eigentlich jeden Tag in jeder Firma geführt werden. Stattdessen aber wird die Frage nach Ineffizienzen meistens anders beantwortet. Etwa so: „Wir helfen unseren Kunden, drei Prozent Kosten gegenüber dem Vorjahr einzusparen. So effizient wie wir ist niemand sonst.”
Hinter diesen beiden Arten, die Frage zu beantworten, steckt ein grundsätzlich anderes Verständnis von Effizienz. Die klassische Methode sieht in Effizienz die Absicht, ein Produkt zu möglichst geringen Kosten herzustellen. Im Gegensatz dazu verlangt die disruptive Methode, das Produkt ganz abzuschaffen und die Kosten damit auf Null zu senken. Das bestehende Produkt wird entweder ganz überflüssig gemacht – etwa die Kasse im Supermarkt, das Fax-Gerät, den Rolodex, die Briefpost, den Kassenautomaten, die Kreditkarte oder die Heizkostenabrechnung. Oder das Produkt wird durch ein neuartiges Produkt ersetzt, das vielmehr kann als das alte und nur einen Bruchteil davon kostet – wie das Smartphone, das Flugtaxi, die Leicht-Rakete oder der Entertainment-Stick in der Buchse des Fernsehers, der die Settop-Box ersetzt.
Warum tun traditionelle Unternehmen sich so schwer, Disruptoren zuvor zu kommen oder strategisch richtige Antworten auf sie zu formulieren? Weshalb handeln sie oft erst, wenn es viel zu spät ist – von Kodak über Nokia bis zu der Deutschen Bank und der deutschen Autoindustrie? Dafür gibt es zwei Hauptgründe.
Erstens, weil es objektiv schwer ist, sich die eigene Nicht-Existenz vorzustellen. Es heißt, man kann als Mensch den eigenen Tod nicht träumen. Kurz bevor man im Traum tödlich verunglückt, wacht man auf. So ähnlich geht es Unternehmen. Angestellte und Manager*innen kommen jeden Morgen in ein reales Büro (sofern Corona dies zulässt), reden mit realen Kolleginnen und echten Kunden, sehen tatsächliche Zahlungseingänge auf den Konten, produzieren anfassbare Waren oder funktionierende immaterielle Güter, sind eingebettet in sehr reale soziale Strukturen und fechten mitreißende, nervenzehrende Schlachten in ihren Organisationen aus. Angesichts dieser überwältigenden Vielfalt sinnlicher Eindrücke bleibt wenig Raum für den Gedanken, dass all dies eines baldigen Tages zu Ende gehen könnte. Ganz anders sieht die Welt für Disruptoren aus. Sie kennen die Welt der bestehenden Firmen meist gar nicht. Ihnen fehlen die sinnlichen Eindrücke. So bleibt viel Platz für ihre Fantasie und Einbildungskraft. Sie denken sich etwas Neues aus, und lassen es Wirklichkeit werden. Angreifer, könnte man sagen, haben es so gesehen immer leichter.
Zweitens haben Verteidiger etwas zu verteidigen, und Angreifer viel weniger zu verlieren. Der Angreifer verliert immer nur die Kosten seines Angriffs, der Verteidiger aber sehr viel mehr als die Kosten seiner Verteidigung. Wenn Disruption wirklich zuschlägt, kann der Preis der Niederlage so hoch sein wie der gesamte Wert der Firma und aller Einkommen aller Mitarbeiter.
Weil das so ist, können wir von einem „Asymmetrie-Paradoxon” sprechen. Eigentlich müsste jedes Unternehmen alles tun, um disruptive Angriffe auf sein Geschäft eigenhändig ins Werk zu setzen, sobald auch nur der Hauch einer Gefahr eines solchen Angriffs droht. Nur so könnte es sicherstellen, dass sein höchstes Gut – die eigene Existenz – unversehrt bleibt. Paradoxerweise aber tun traditionelle Unternehmen genau dies nicht, weil sie fürchten, sich selbst zu kannibalisieren, also ihrem eigenen Geschäft zu schaden. Sie halten also still, warten ab und mauern sich in ihrem bisherigen Modell der Wertschöpfung ein. Genau dieses Verhalten lädt den Disruptoren zum Durchmarsch ein. Er trifft auf keine nennenswerte Gegenwehr. So kann er ungestört überlegene Güter produzieren und zusehen, wie die vermeintlich treuen Kunden des Angegriffenen in Scharen zu ihm überlaufen. So geschehen bei Apple und Nokia, Tesla und Daimler oder N26 und der Commerzbank.
Anders ausgedrückt: Der Versuch, sich zu verteidigen, endet oft genug mit einem schmerzhaften Verlust, während die beste Strategie, sich zu wehren, meist darin besteht, im gestreckten Lauf gegen das eigene Geschäftsmodell anzustürmen, bevor andere die Chance bekommen, dies zu tun. Es gibt ganze Branchen, die es in der heutigen Form nicht mehr geben sollte. Das Ablesen von Gas- und Strom-Zählern ist genauso sinnlos wie das Herstellen von Schranken für Parkhäuser, das Aufstellen von Kassenautomaten, das Produzieren von Ladenkassen oder das Abheften von Belegen. Trotzdem gibt es diese Branchen noch, und sie lassen es sich nicht nehmen, immer neue, leicht verbesserte Varianten ihrer Gerätschaften auf den Markt zu bringen. Warum? Wenn sie gleichzeitig an der Abschaffung dieser Maschinen und Prozesse arbeiten würden und das Stammgeschäft nur noch aufrechterhielten, um eine Übergangsphase so erfolgreich wie möglich zu gestalten, dann wäre dagegen nichts zu sagen.
Doch die meisten Unternehmen denken ihre Produkte nicht aus den Wertschöpfungsketten fort, in denen sie stecken. Vielmehr versuchen sie, ihnen noch mehr Raum zu verschaffen. Damit sprechen sie laufend Einladungen an Disruptoren aus: „Schafft uns ab! Wir haben es selbst nicht verstanden.” Wie entkommt man dieser Falle? Wie entrinnt man der Schwerkraft der Verhältnisse? Zum Beispiel, indem man regelmäßig Workshops veranstaltet, in denen die besten Köpfe des Unternehmens zusammenkommen und überlegen: Wie schaffen wir unser Produkt selbst ab? Und wie können wir es durch einen ganz neuartigen Prozess ersetzen?
Effizienz heißt also: sich die Welt, ohne sich selbst vorzustellen. Ineffizienzen produziert, wer dies nicht tut, und wahre Werte schafft, wer den Gedanken wagt.