Wie Gaming die Infrastruktur des zukünftigen Internets legt
Diese Artikelreihe setzt sich sich mit der Gaming-Industrie und ihrem Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft auseinander. Der erste Artikel liefert einen kompakten Überblick über den Markt und unterstreicht das beeindruckende Wachstum, das die Branche in den letzten Jahren erlebt hat.
Im Mittelpunkt dieses zweiten Artikel stehen Game Engines, was sie sind und warum sie weit mehr als „nur“ Gaming-Software sind.
Der dritte Teil stellt in fünf knappen Thesen dar, warum Videospiele nicht in der Zukunft, sondern im Hier und Jetzt das zentrale Unterhaltungsmedium sind.
Im vierten Artikel werfen wir einen Blick auf Games als die Weiterentwicklung der sozialen Netzwerke.
Der fünfte und letzte Teil dieser Reihe führt alle diese Punkte zusammen, weit über Gaming hinaus – hin zur nächsten Entwicklungsstufe des Internets.
Was haben BMW, die Modemarke Balenciaga, der Tech-Konzern Tencent, Pokémon Go-Schöpfer Niantic, Filmreihen wie der König der Löwen oder Star Wars und der Bauriese Skanska gemeinsam? Sie alle nutzen Game Engines.
Game Engines bilden die technologische Grundlage von Videospielen: sie verwalten die Regeln und die Logik der virtuellen Welt des Gamings. Sie hindern Charaktere daran durch Wände zu gehen oder durch Böden zu fallen. Sie lassen Wasser auf natürliche Weise fließen und sorgen dafür, dass Interaktionen zwischen Objekten realistisch und nach den Gesetzen der Physik ablaufen. Sie berechnen Beleuchtung, Schatten sowie die Texturen und das Reflexionsvermögen von Objekten in der virtuellen Welt. In Multiplayer-Spielen koordinieren sie die Interaktionen von Spielern auf der ganzen Welt.
Game Engines sind eine umfangreiche Suite von Software-Tools, mit denen virtuelle Inhalte erzeugt werden können – ohne dass man dafür auch nur eine Zeile Code schreiben muss.
Langsam beginnt die Welt zu verstehen, dass die Videospielindustrie weitaus mehr zu bieten hat als kurzweiligen Zeitvertreib. Game Engines gehören zu den ausgeklügeltsten Simulationssystemen auf dem Markt.
Unreal und Unity – das Quasi-Monopol der Gaming-Technologie
Die ersten Game Engines wurden in den 1980ern entwickelt. Damals wurde noch für jedes Spiel eine eigene Engine programmiert. 1996 brachte dann der Spieleentwickler Id Software den First-Person-Shooter Quake auf den Markt. Im Paket enthalten: Eine gleichnamige Game Engine. Spieler konnten diese nutzen, um neue Levels zu entwerfen. Vor allem aber wurde die Software an Drittentwickler lizenziert – ein Novum.
Obwohl heute einige Engines erhältlich sind, sind zwei Anbieter die unangefochtenen Marktführer: der Unreal Engine, entwickelt von Epic Games, und der Unity Engine des von Unity Technologies.
Unreal wird vermehrt von Entwicklern von PC- und Konsolenspielen genutzt; sie ist auf größere, leistungsstarke und professionelle Projekte ausgerichtet. Gleichzeitig hat Epic Games mit Fortnite ein Spiel auf der hauseigenen Unreal Engine entwickelt, welches plattformübergreifend sowohl auf Konsolen oder PCs als auch auf mobilen Geräten gespielt werden kann. Epic Games ist darüber hinaus der Entwickler des extrem erfolgreichen Spiels Fortnite und hat bereits mehr als 3,4 Mrd. US-Dollar an Risikokapital erhalten.
Unity wiederum dominiert die mobile Sparte – heute das größte und am schnellsten wachsende Segment der Videospielindustrie – mit einem Marktanteil von über 50%. Darüber hinaus ist Unity auch bei AR- und VR-Inhalten mit über 60% der Marktführer. Im September 2020 ging Unity Technologies mit großem Erfolg an die New Yorker Börse und wartet (Stand Dezember 2020) mit einer Marktkapitalisierung von über 38 Mrd. US-Dollar auf.
Andere Software, wie etwa die CryEngine der deutschen Firma CryTek, fristen eher ein Nischendasein.
Die meisten neuen Game Studios nutzen die Engines der Marktführer, auch weil die Umstellung einer bestehenden Game-Infrastruktur auf eine neue Engine ein aufwendiges Unterfangen ist. Umfangreiche Umbauten sind erforderlich und lohnen sich selten. Auch ist es schwierig, Entwickler für die Arbeit mit einer Nischen-Engine zu rekrutieren. Unity und Unreal haben sich somit einen robusten Industriestandard aufgebaut, sodass Dritte kaum konkurrenzfähig sein können. Wer ihre Geschäftsmodelle und die Gründe für den außergewöhnlichen Erfolg dieser beiden Unternehmen noch tiefgreifender verstehen will, dem sind die sehr ausführlichen und sehr erhellenden Artikelreihen zu Unity Technologies von Eric Peckham und Epic Games von Matthew Ball zu empfehlen.
Flughäfen, Star Wars und „Serious Games“
Der Einfluss und die Relevanz von Game Engines außerhalb der Branche sind bisher nur Experten geläufig. Deswegen werden wohl auch Unternehmen wie Epic Games oder Unity immer noch missverstanden. Für die Branche selbst ist der Schritt aus der Spieleindustrie hinaus jedoch unerlässlich, um weitere Wachstumsfelder zu erschließen.
Zur Berechnung von animierten Sequenzen in Filmen und TV-Serien werden Game Engines bereits seit einiger Zeit verwendet. In den letzten Jahren hat die Technologie der “Virtual Production” allerdings besonders an Popularität gewonnen. Sie ermöglicht es reale und virtuelle Elemente eines Films zeitgleich aufzunehmen; die Welten verschmelzen in Echtzeit.
Die von Disney produzierte und enorm populäre Serie The Mandalorian, Teil des Star Wars-Universums, wurde komplett durch Virtual Production realisiert. Die weiten Welten ferner Planeten wurden in einem einzigen Studio in Los Angeles eingefangen – umgeben von einer runden, 6 mal 23 Meter großen LED-Wand, die einen dynamischen, fotorealistischen Hintergrund über ein Blickfeld von 270 Grad erzeugt. Die in Echtzeit eingespielten Hintergründe, seien es Wüsten, Wälder oder Weltraumstädte, wurden in der Unreal Engine entworfen.
Virtual Production wird dabei nicht nur in fantastischen Geschichten in fernen Universen verwendet, für die zwischen außerirdischen Welten auf Knopfdruck gewechselt wird – auch für die Erfolgsserie Westworld oder den Arthouse-Film und Oscar-Gewinner Parasite wurden virtuelle Sets live in den Hintergrund gespielt.
Virtual Production erlaubt die Realisierung aufwendiger und hochwertiger Produktionen auf kleinster Fläche. The Mandalorian wurde unabhängig von Raum, Zeit und Wetter gedreht – ein Szenenwechsel bedeutet nun nicht mehr, Crews und Material um den halben Erdball zu schicken. Heute muss nur noch ein Knopf gedrückt werden und ein neuer Hintergrund erscheint auf der LED-Wand. So müssen sich Schauspieler auch nicht mehr vor Greenscreens bemühen. Visuell existieren keine Grenzen. Zudem sinken die Kosten und Aufwände für Produktionen.
Auch Animationsfilme erleben durch Game Engines einen Quantensprung. Die Neuauflage des Disney-Klassikers Der König der Löwen wurde gänzlich mit der Unity Engine entwickelt. Die komplette Szenerie der afrikanischen Fauna und Flora wurde als fotorealistische virtuelle Welt mit der Unity Engine entwickelt. Mittels VR-Brillen und virtuellen Kameras konnten sich Regisseur Jon Favreau und sein Team in der Simulation bewegen und den Film komplett in dieser digitalen Parallelwelt aufnehmen.
Doch wie oben bereits kurz angerissen, der Einsatz von Game Engines geht weit über den naheliegenden Entertainment-Sektor hinaus. In der Bauindustrie arbeitet man kollaborativ an interaktiven 3D-Modellen und simuliert diverse Bedingungen für die geplanten Gebäude mehrfach hintereinander durch. So wurde ein kompletter “digitaler Zwilling” des Hong Kong International Airport in Unity entworfen. Der Zwilling erlaubt es den Betreibern, verschiedene Einflüsse auf den Flughafen zu simulieren und zu überwachen, wie z.B. starkes Unwetter und Naturkatastrophen, Passagierströme oder Wartungsprobleme.
Auch für Sales und Marketing ermöglichen Game Engines neue Erfahrungen: So können Produkte digital erstellt und durch VR-Brillen oder Smartphone-Screens in der realen Welt platziert werden. Selbst das Blättern durch den IKEA-Katalog kann man durch das Erlebens eines in der Unreal Engine erstellten digitalen Zwillings simulieren. Mittlerweile hat IKEA einen Großteil des Katalogs virtualisiert – so können die früher mühsam inszenierten und fotografierten Küchen- oder Wohnzimmer-Bilder digital nach Belieben und mit wenigen Handgriffen durch die fotorealistischen digitalen Zwillinge zusammengestellt werden. Jüngst hat das Luxus-Modelabel Balenciaga in einer Kooperation mit Epic Games die Präsentation der neuesten Kollektion in ein über die Unreal Engine laufendes Videospiel verlegt. “Besucher” dieses virtuellen Catwalks können sich durch fünf “Levels” durchspielen und dabei Avatare der Models bestaunen, bekleidet mit dreidimensionalen digitalen Versionen der neuen Kleidungsstücke und Accessoires.
Autohersteller nutzen Game Engines, um ihre Car Configurators mit täuschend echten und “begehbaren” virtuellen Versionen ihrer Autos auszustatten, oder um neue Fertigungsstraßen zu planen und virtuell zu testen.
Architekten und Designer können die Technologie wiederum nutzen, um Wohnungen, Häuser oder Büros nach den Wünschen der Bauherren digital zu entwerfen – vor allem aber in einer simulierten Umgebung, die den realen Verhältnissen entspricht (wie etwa dem Einfluss von Sonnenlicht).
Game Engines ermöglichen darüber hinaus Simulationen, die in der realen Welt zu aufwendig, zu teuer oder zu gefährlich wären. So können riskante Arbeitssituationen, beispielsweise auf der Baustelle, virtuell und gefahrlos trainiert werden. Um Trainingsdaten für KI-Algorithmen, wie etwa für autonome Fahrzeuge, schneller und kontrollierter zu entwickeln, können Nachbildungen der realen Umwelt für Tausende von simulierten Fahrten genutzt werden. Künftig könnten solche Simulationen auch in der Grundlagenforschung helfen: Chemiker könnten in virtuellen Umgebungen Milliarden von Experimenten mit virtuellen Chemikalien durchführen. Die Reaktionen mit verschiedensten Stoffen könnten simuliert werden, um deren Zusammenspiel für die Herstellung potenzieller Medikamente zu testen.
Diese bereits sehr vielfältige Auswahl an Einsatzgebieten von Gaming-Technologie in anderen Industrien (die Branche spricht hier von Serious Games) zeigt nur einen kleinen Teil der sich entwickelten Möglichkeiten.
Warum Game Engines (und die Unternehmen dahinter) so relevant sind
Unternehmen wie Unity und Epic Games wollen mehr als nur bessere Spiele produzieren. Die Entwicklung einer für die Zukunft der digitalen Wirtschaft maßgeblich verantwortlichen Infrastruktur ist in ihrer Strategie fest verankert. Sylvio Drouin, Vice President des Unity Labs R&D-Team, drückt es wie folgt aus: „Unity wants to be the 3D operating system of the world”. Tim Sweeney, CEO und Gründer von Epic Games, betont stets, dass Game Engines eine “gemeinsame Sprache” entwickeln, die die verschiedensten Branchen und Sektoren, wie etwa Gaming und die Baubranche, die bisher wenig bis gar nichts miteinander zu tun hatten, zusammenbringt.
Unity Technologies wie auch Epic Games haben in den vergangenen Jahren hunderte Millionen von Dollar investiert. Sie wollen nicht weniger als eine neue digitale Infrastruktur entwickeln. Sie glauben fest daran, dass sich interaktive 3D-Welten durch unseren kompletten Alltag ziehen werden – von Entertainment über Industrie-Simulationen bis hin zu Büro- und Produktivitäts-Tools. Unterstützt werden sie dabei von Unternehmen, die an der Vernetzung der Game Engines arbeiten und ergänzende Services entwickeln: mit dem “Omniverse” baut der Chiphersteller NVIDIA eine Plattform, in der verschiedenste 3D-Simulations-Softwares gemeinsam verwendet werden können. So entsteht ein über verschiedene Branchen wachsendes Ökosystem.
Sollten Unity Technologies und Epic Games ihre Position in den kommenden Jahren weiter ausbauen, werden sie mit zu den wichtigsten Technologieunternehmen der Welt gehören. Das Wachstum des Gaming-Marktes und vor allem der zunehmenden Nutzung von Game Engines in anderen Branchen steigert das Monetarisierungspotential enorm.
Infrastruktur braucht Zeit. Ist sie jedoch einmal gelegt, sinken Eintrittsbarrieren und damit auch oft die damit verbundenen Preise und Aufwände für die breite Masse. Auch wenn Game Engines für viele von uns heute noch bloße Spielerei sind, stehen wir kurz vor einer der größten Innovationsexplosionen der Internetgeschichte.