Kapitel 3 – Wie weit sind wir auf dem Weg in die neue Ära des Metaverse?
Cord SchmidtConsultant Cord Schmidt ist Consultant bei hy und berät unsere Kunden bei der Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle. |
In den vorangegangenen Kapiteln habe ich die grundlegenden Charakteristika sowie die Säulen beschrieben, welche dem Metaverse zugrundeliegen. All diese Entwicklungen mögen etwas luftig erscheinen, vielleicht visionär, vielleicht utopisch oder auch dystopisch – vor allem klingen sie noch sehr hypothetisch. Aber wo stehen wir heute mit dem Metaverse? Wie im Verlauf des Artikels hervorgehoben, geschieht hinter der sich langsam lüftenden digitalen Nebelwand noch viel mehr als lediglich Mark Zuckerbergs Fantasien.
3.1 Das trojanische Pferd des Metaverse
So wie das heutige Internet und seine wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung in den vergangenen drei Jahrzehnten stückweise zusammengekommen ist, so entwickelt sich auch das Metaverse, langsam und Stück für Stück.
Die Gaming-Industrie und die heute erfolgreichen Gaming-Plattformen lassen sich als das trojanische Pferd des Metaverse verstehen. Elementare Bausteine des Metaverse, sowohl technologisch, ökonomisch als auch gesellschaftlich, sind über die letzten Jahre in der Branche vorangetrieben worden. Game Engines ermöglichen die einfachere, immer detailliertere Simulierung virtueller, dreidimensionaler Welten. Die Kommunikation und das soziale Miteinander über Avatare findet seit Jahren in Spielen wie Fortnite statt. Und schließlich haben Videospiele mit ihren In-Game-Economies und digitalen Assets die Entwicklung von Social Tokens und NFTs vorweggenommen. Blockchain-basierte Spiele wie Axie Infinity und Star Atlas zeigen durch innovative Geschäftsmodelle wie “Play to earn” und eigene, komplexe Wirtschaftssysteme erneut aus der Gaming-Welt in die Zukunft.
3.2 Wer baut das Metaverse?
Facebook (oder auch Meta – wir werden sehen wie schnell der Name sich durchsetzt) könnte, so überraschend es klingen mag, einer der wichtigsten Wegbereiter des Metaverse für die Massen sein. Und zurzeit hilft am ehesten Facebook dabei, das nächste Internet attraktiv für Creators, Entwickler:innen und Nutzer:innen zu gestalten. Das Unternehmen ist schon deutlich weiter, als vielen bewusst ist, auch durch die wachsende Palette an Hardware (Portal, Oculus Quest, Prototypen für haptische Erlebnisse im Metaverse). Darüber hinaus verfügt Facebook über eine enorme Nutzerbasis von mehreren Milliarden Menschen.
Ebenso hat Facebook verstanden, dass der langfristig profitabelste Weg ein offenes Metaverse sein wird, und somit auch die Anpassung an die Web3-basierte Digitally Native Economy. Anders als beispielsweise Apple oder Google, die nach wie vor an den unglaublich hohen Gebühren von ca. 30% in ihrem App Store festhalten (Google hat im Oktober 2021 die Gebühren teilweise auf 15% reduziert), wird Facebook eher ein “Koordinator” der Metaverse-Wirtschaft sein: der Fokus wird auf der Ermöglichung von möglichst vielen Nutzer:innen und Entwickler:innen liegen, weswegen Transaktionskosten deutlich niedriger sein sollen und die Hardware zum Selbstkostenpreis verkauft werden.
Aber auch einige weitere etablierte Unternehmen aus verschiedenen Branchen fügen weitere Puzzleteile hinzu. Snap, ehemals Social-Media-Konkurrent von Facebook, baut schon seit Jahren an einer eigenständigen Augmented-Reality-Plattform, entwickelt eigene, mittlerweile dreidimensionale Avatare (Bitmojis) und bietet mit den Spectacles auch eigene Hardware an.
Der Videospiel-Entwickler Atari hat bereits große Flächen Land in The Sandbox, einer Blockchain-basierten virtuellen Welt ähnlich Decentraland, gekauft. Darauf entwickelt Atari 3D-Versionen klassischer Konsolenspiele wie z.B. Pong.
Mit dem “Omniverse” baut der Chiphersteller NVIDIA eine B2B-Plattform, in der verschiedenste 3D-Simulations-Softwares sowie digitale Daten und Produkte gemeinsam verwendet werden können – unabhängig davon, in welcher Software sie entwickelt wurden. So entsteht ein über verschiedene Branchen wachsendes Ökosystem.
Discord hat mittlerweile mehr als 150 Mio. Nutzer:innen. Als ein Slack-ähnlicher Chat für Gamer gestartet, ist Discord mittlerweile eine Plattform, auf der Nutzer über Audio, Video oder Text kommunizieren und private Communities („Servers“) zu verschiedenen Themen eröffnen können. Die drehen sich längst nicht mehr nur um Videospiele oder verwandte Themen, sondern jede noch so kleine Nische, wie etwa einen Discord-Server für Papageien-Besitzer. Gleichzeitig können Nutzer live streamen (ähnlich wie Twitch), virtuell mit Freunden Filme (oder Gameplay) schauen oder an einem live übertragenen Online-Kurs teilnehmen (so wird ganz nebenbei das Verständnis von Bildung disruptiert). Discord ist längst zum inoffiziellen Kommunikationsmedium des Metaverse geworden, zu einem Ort – das wird deutlich durch die neue Werbekampagne der Plattform, “Imagine a place”:
Was heute entsteht ist kein neues Second Life und kein reines Facebook in 3D. Der richtige Zeitpunkt ist wie immer ein zentraler Aspekt (man denke an das krachende Scheitern von Google Glass und die “Glassholes” zurück) – wann besteht die optimale Schnittmenge aus bereiter Technologie, bereiter Wirtschaft und vor allem bereiter Gesellschaft? Dieser Punkt scheint durch eine wachsende Bereitschaft in allen drei Bereichen sehr nahe zu sein.
3.3 Wird das Metaverse überhaupt gut?
Natürlich bestehen noch viele Herausforderungen und offene Fragen. Der Umfang, die Relevanz und auch die Chancen des Metaverse sind trotz erhöhter Berichterstattung für viele von uns noch unklar (darum dieser kleine Artikel). Blockchain-Applikationen sind noch nicht da, wo sie sein könnten und sollten – sie sind teuer, langsam und vor allem energieintensiv. Darüber hinaus bleiben “decentralized Apps” noch hinter ihrem Potenzial, da bestehende Gatekeeper wie Apple und Google noch zu viel Macht besitzen. Der primäre Grund, warum Blockchain-basierte dezentralisierte Apps häufig nur auf Webbrowsern zu finden sind, ist Apple’s hohe App-Store-Gebühr von 30%.
Auch die virtuellen Komponenten wirken noch etwas klobig und nicht wirklich attraktiv – wer möchte schon lieber mit einem komisch, teilweise gruselig aussehenden Avatar an virtuellen Konferenzen mit anderen merkwürdigen Avataren teilnehmen, als Leute im echten Leben oder zumindest auf einigermaßen hochauflösenden Bildschirmen zu sehen? Andererseits: wäre es nicht reizvoll, sein Gegenüber als fotorealistisches Hologramm im zu sehen?
Louis Rosenberg, einer der ersten Entwickler von AR-Anwendungen, warnt in einem Artikel vor möglichen negativen Auswüchsen des Metaverse. Durch die virtuelle Erweiterung der Realität könnten sich die Probleme des heutigen Internets auf den dreidimensionalen Raum übertragen. Wir würden dann nicht mehr nur einen kuratierten Feed wie bei Facebook, Instagram oder TikTok haben, sondern eine ganze kuratierte Welt: Die Filterblasen würden zu echten Blasen: möchte ich die Obdachlosen am Straßenrand auf meinem Weg ins Büro nicht sehen? Kein Problem, die können ausgeblendet werden. Möchte ich mit Menschen und Unternehmen keinen Kontakt haben, die nicht meinen (politischen) Vorstellungen entsprechen? Kein Problem, auch die können ausgeblendet oder durch digitale Labels über ihren Köpfen oder Avataren “kenntlich gemacht” werden. Und auch diese Dystopie einer von Werbung überladenen Welt, die ohne ihre blinkenden Lichter einfach nur grau aussieht, möchte niemand erleben.
3.4 Das offene Metaverse
Doch: die Ankündigung von Facebook, kein geschlossenes Metaverse hinter “Walled Gardens” bauen zu wollen, ist tatsächlich ein sinnvoller Schritt in eine gute Richtung (auch wenn sicherlich mit einem strategischem Blick auf Apple und andere Konkurrenten getätigt). Mehrere geschlossene Metaverses einzelner Tech-Giganten wären tatsächlich der falsche Weg – wie das heutige Internet, nur deutlich schlimmer. So bewegen wir uns tatsächlich auf ein Internet zu, das den Idealen des vereinten Europa ähnelt, mit all seinen Vorzügen und auch Herausforderungen.
Eines der großen Missverständnisse, das derzeit durch einen Teil der Medienberichterstattung geistert, ist die Annahme dass Nutzer:innen, Entwickler:innen und die Gesellschaft als Ganzes keinen Einfluss auf die Entwicklung der nächsten Ära des Internets hätten. Im offenen Metaverse, in dessen Richtung die Entwicklung zurzeit deutet, ist genau das nicht der Fall. Die Macht über Daten, Privatsphäre und Güter verschiebt sich von wenigen großen Tech-Konzernen hin zur einzelnen Person oder Kollektiven.
Wie auch das heutige Internet kann das Metaverse in vielen Teilen eine Bereicherung der Lebensrealität und -qualität sein, vielleicht sogar in mehr Bereichen. Ein Internet, das sich mit der realen Welt räumlich verbindet und gleichzeitig deren Grenzen aufhebt.
Das Metaverse kommt und ist teilweise schon hier. Das ist zunächst weder gut noch schlecht, wie Don Draper sagen würde. Die Frage ist lediglich, was wir daraus machen.
“And let’s also say that change is neither good nor bad, it simply is. It can be greeted with terror or joy, a tantrum that says ‘I want it the way it was,’ or a dance that says, ‘Look, something new!’”
– Don Draper in Mad Men