Verlieren deutsche Unternehmen vor lauter Krise die Zukunft aus dem Blick?

In der Dauerkrise kümmern sich insbesondere die etablierten Unternehmen in Deutschland zu wenig um ihre langfristige Strategie.

03.06.2022 – Ein Beitrag von Dr. Jan Tewes Thede und Timo Schulze

Auf Sicht fahren ist das Gebot der Stunde

Globale Pandemie, Krieg in Europa und stockende Lieferketten. Deutsche Unternehmenslenker befinden sich seit über zwei Jahren im permanenten Krisenmodus. 

Während die Corona-Pandemie zumindest Digitalisierungsinitiativen in großen Unternehmen einen Schub gegeben hat, scheint die deutsche Wirtschaft angesichts der aktuellen Krisen von Innovation auf Durchhalten zu schalten. Ganz nach dem Motto: “Was bringt uns ein Plan für die Zukunft, wenn wir heute nicht an Rohstoffe kommen?” 

In den Krisenjahren haben viele Unternehmen gelernt, flexibel und schnell zu reagieren. Die letzten 24 Monate haben Entscheider gelehrt, mit dem Unerwarteten zu rechnen, und haben deutlich gemacht, wie wichtig es ist, sich schnell und flexibel anpassen zu können.

Langfristiger Erfolg braucht aber nicht nur kurzfristige Flexibilität sondern auch einen klaren Blick nach vorne.

Die Zukunft darf nicht aus dem Blick verschwinden

In einer Krise verengt sich der Blick von Entscheidern naturgemäß auf die kurzfristigen Probleme. Doch die langfristigen Megatrends werden von Krisen nicht aufgehalten sondern im Zweifel noch beschleunigt. Deshalb ist es für Unternehmenslenker so wichtig, in Krisenzeiten beides zu tun: Auf Sicht fahren und trotzdem am langfristigen Kurs zu arbeiten.

Unternehmen müssen sich damit beschäftigen, wie sich ihr Marktumfeld langfristig verändert und welche Rolle sie in diesem veränderten Umfeld einnehmen. Denn eins ist klar: So sehr uns auch gerade kurzfristige Themen beschäftigen; viele Entwicklungen sind langfristig und sehr wohl vorhersehbar: Vom demographischen Wandel, über die Klimakrise bis zur anhaltenden Digitalisierung.

Genau darum finden wir es beunruhigend, dass in der Wirtschaftspresse kaum noch von mutigen Innovationen und langfristigen Strategien zu lesen ist, sondern vor allem von kurzfristiger Problembewältigung.

Lässt sich daraus ableiten, dass sich deutsche Unternehmen zu wenig mit der Zukunft beschäftigen? Zumindest eine Analyse des aktuellen Arbeitsmarktes bestätigt den Eindruck.Wir haben analysiert, wie intensiv die deutschen Unternehmen im Bereich Strategie & Planung nach neuen Mitarbeiter:innen suchen. Also einfach gesagt: Wie viele der offenen Stellen in deutschen Unternehmen sollen sich mit der Zukunft beschäftigen und wie viele mit dem Hier und Jetzt. Das Ergebnis ist eindeutig: Deutschland hat Aufholpotential im Bereich Strategie.

Deutsche Unternehmen suchen kaum Strategen

Als Grundlage für die Datenerhebung haben wir alle Stellenangebote auf LinkedIn, dem weltweit größten beruflichen sozialen Netzwerk, untersucht. Mehr als 57 Millionen Unternehmen sind derzeit auf LinkedIn gelistet und bieten mehr als 15 Millionen offene Stellen an. Weltweit werden jede Minute durchschnittlich 6 neue Stellen über LinkedIn besetzt.

Offene Strategiepositionen: Ländervergleich

Nur 0,58% der derzeit angebotenen Stellen in Deutschland haben mit Strategie und Planung zu tun. Damit belegt Deutschland im internationalen sowie europäischen Vergleich einen der hinteren Plätze. Die USA ist mit 0,8% deutlich vor Deutschland.

Offene Strategiepositionen: DAX Newcomer vs. DAX30

Bei einem internen DAX-Vergleich können die etablierten DAX-Unternehmen von den Neulingen lernen. Die „Newcomer“ im DAX bieten prozentual deutlich mehr strategierelevante Positionen (0,79%) wie die DAX30-Unternehmen (0,28%). 

Im Innovationsmekka Silicon Valley sind es mit 1,66% fast dreimal so viele. Auch in der EU nimmt Deutschland einen der hintersten Plätze ein und liegt deutlich unter dem weltweiten (0,67%) und dem EU-Durchschnitt (0,61%).

Offene Strategiepositionen: Kalifornien vs. Deutschland

Auch die absoluten Zahlen zeigen ein klares Bild. Deutschland hat mit 83 Millionen mehr als doppelt so viele Einwohner wie der US-Bundesstaat Kalifornien, bietet aber mit 5.860 nur halb so viele offene Strategiepositionen.

Einer der vielen Gründe ist die Unternehmenskultur der verschiedenen Länder und Unternehmen. Auf einer Seite stehen Startups. Fehlerkultur, Dream Big und Purpose sind nur drei von unzähligen Buzzwords die mit Startups verbunden werden. Die Kultur ist geprägt von der Vision, langfristig erfolgreich zu sein und etwas (weltbewegendes) zu verändern. Auf der anderen Seite: etablierte Unternehmen. Hier ist der Alltag geprägt von Quartalsergebnissen, Jahresabschlüssen, Bilanzen und detailiertes Monitoring von KPIs und monatlichen Reportings.

Eine gute Strategie ist kein Luftschloss sondern ein solider Plan

Bei langfristigen Strategien oder gar Visionen denken viele an Luftschlösser. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es geht um einen soliden Plan für die Zukunft aus folgenden Elementen:

  • Eine scharfe Diagnose des (sich verändernden) Umfeldes
  • Eine klare Formulierung der gewünschten Position
  • Klare Leitlinien und konkrete Maßnahmen zur Erreichung der Position

Wir hören oft, dass langfristige Pläne sinnvoll sind, weil sich die Welt so schnell verändert. Es ist hingegen so, dass viele langfristige Entwicklungen wie Klimawandel, Digitalisierung oder Demografie trotz Krise anhalten und häufig sogar beschleunigt werden. Dazu können wir Frühindikatoren wie die Risikokapitalinvestitionen nutzen, um ein Bild der Märkte der Zukunft zu zeichnen. 

Ein bekanntes Beispiel für eine klare Zukunftsstrategie ist Tesla, bei dessen CEO Elon Musk viele eher an tollkühne Visionen statt an solide Pläne denken. 2006 veröffentlichte Musk den Secret Tesla Master Plan, in dem er nicht nur seine Diagnose verschiedener Antriebstechnologien sondern auch den Plan für die nächsten Jahre klar formuliert.

Elon Musk’s Master Plan für Tesla

Es ist kein Wunder, dass Musk und Tesla aus dem Strategie-freundlichen Silicon Valley den Entscheidungsträgern in den etablierten Automobilunternehmen weltweit schlaflose Nächte bereiten.

Das Best Buy Beispiel

Gute Strategie muss aber nicht immer so schillernd daherkommen wie bei Elon Musk. Ein anderes positives Beispiel ist Best Buy, der amerikanische multinationale Einzelhändler für Unterhaltungselektronik mit Hauptsitz in Minnesota. 1966 als Audio-Fachgeschäft mit dem Namen Sound of Music gegründet kam 1983 der heutige Name und die Erweiterung des Geschäftes auf Unterhaltungselektronik.

2018 kündigt das Unternehmen an, den Gesundheitsmarkt erobern zu wollen mit klarem Fokus auf die alternden Baby Boomer und häusliche (virtuelle) Pflege. Dem Plan zugrunde liegt eine klare Diagnose:

  • Das Kerngeschäft als stationärer Händler im Bereich Unterhaltungselektronik wird nicht einfacher.
  • Häusliche Pflege ist in der stark alternden US-Gesellschaft ein massiv wachsender Markt.
  • Heimelektronik ist ein perfekter Eintritt in den Bereich der häuslichen Pflege. „Die Zukunft der Verbrauchertechnologie ist direkt mit der Zukunft des Gesundheitswesens verbunden“, so Deborah Di Sanzo, Präsidentin von Best Buy Health. 

Seit der Ankündigung verfolgt Best Buy den Plan mit mutigen Investitionen. In den letzten drei Jahren hat Best Buy durch eine Reihe von Übernahmen, darunter die von Lively und Critical Signal Technologies, kontinuierlich in die Gesundheitstechnologie investiert. Das Unternehmen hat außerdem seine Produktpalette in Kategorien wie Home Fitness, Wearable Technology und Home Health Monitoring erweitert. 

Ausschnitt aus Best Buy’s Gesundheitsstrategie

Im November 2021 verkündete Best Buy die nächste Übernahme – Current Health für $400M. Current Health ist eine führende Technologieplattform für die häusliche Pflege. Die Übernahme von Current Health ist ein wichtiger Schritt in der Strategie, ein ganzheitliches Pflege-Ökosystem zu schaffen.

Es gibt keine hundertprozentige Gewissheit, dass Best Buy’s Gesundheitsstrategie erfolgreich sein wird. Sicher ist aber, dass ein “Einfach weiter so” früher oder später noch immer in die Bedeutungslosigkeit führt.

Kursentwicklung Best Buy vs. Ceconomy

Und zumindest ein Vergleich der Aktienkurse von Best Buy und CECONOMY (der Konzern hinter den führenden deutschen Elektronikhändlern Media Markt und Saturn) zeigt, dass die Analysten an die Strategie glauben. 

Fazit: Krisen dürfen keine Ausrede sein, sich vor der Zukunft zu verstecken

Es ist richtig: Wenn Unternehmen heute ihre Lieferkette nicht in den Griff bekommen, brauchen sie sich keine Gedanken über die Zukunft zu machen. Aber genauso gilt: Wenn sie keinen Plan für die Zukunft haben, brauchen sie auch nicht durch die nächste Krise zu kommen.

Die letzten Jahre haben gezeigt: Ungewissheit ist die neue Normalität. In der Krise haben wir gelernt auf Sicht zu fahren. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen den Kurs für die Zukunft zu bestimmen. Sonst umschiffen die deutschen Unternehmen zwar erfolgreich alle Hindernisse, kommen aber nirgendwo an.